Entgegnung auf eine Tiroler Stimme zu Selbstbetimmung und Minderheiten(schutz) der Ukraine
Ein Südtiroler Abgeordneter, dessen Name hier nichts zur Sache tut, befand unlängst in einer Aussendung, der von Russland(s Präsident) gegen die Ukraine geführte Krieg wäre vermieden worden, wenn die zugrundeliegenden Konflikte um die Krim sowie die Ost-Ukraine durch Anwendung des in Art. 1 der Menschenrechtspakte verankerten Selbstbestimmungsrechts friedlich gelöst worden wären. Und zwar dadurch, dass „man einfach die dort lebende Bevölkerung in einer demokratischen Abstimmung gefragt hätte, was sie will und den ethnischen Minderheiten umfangreiche Schutzmaßnahmen angeboten hätte.“
Dazu ist nüchtern festzustellen:
Die Bevölkerung der Ukraine hat sich im Dezember 1991 in einem klaren Akt international anerkannter Selbstbestimmung für die staatliche Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Souveränität ihres Landes ausgesprochen. Diese Selbstbestimmung war den Vorfahren des besagten Abgeordneten nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg verweigert worden – und wird den Südtirolern auch heute nicht zugestanden! Zwischen Lemberg/Lwiw/Львів im Westen und Lugansk/ Луганск im Osten, zwischen Tschernigow/Чернигов im Norden und Sewastopol /Севастополь auf der Halbinsel Krim/ Крымский полуостров im Süden votierten am 1. Dezember 1991 in der diesbezüglichen Volksabstimmung (bei einer Beteiligung von 84,18 Prozent) 92,26 Prozent aller 37.885.555 Stimmberechtigten für die Souveränität der Ukraine.
Auch die Abstimmungsberechtigten in der Ost-Ukraine, wo ethnische Russen die Bevölkerungsmehrheit bilden, stimmte mit überwiegender Mehrheit dafür: So in den Verwaltungsgebieten (Oblasti/области) Donezk / Донецк (83,90 Prozent; Wahlbeteiligung 64 Prozent) und Lugansk / Луганск (83,86 Prozent; Wahlbeteiligung 68 Prozent) sowie auf der (2014 von Russland einverleibten) Krim/Крым (54,19 Prozent; Wahlbeteiligung 60,0 Prozent). Die Halbinsel hatte in der Ukraine den Status einer autonomen Republik.
Das Selbstbestimmungsrecht war damals ebenso unbestritten ausgeübt worden, wie es Schutzmaßnahmen für die ethnischen Minderheiten gegeben hat. Neben den zehn größten Volksgruppen (Ukrainer 72,7 Prozent; Russen 17,3 Prozent; Rumänen/Moldauer 0,8 Prozent; Weißrussen 0,6 Prozent; Krimtataren 0,5 Prozent; Bulgaren 0,4 Prozent; Magyaren 0,3 Prozent; Polen 0,3 Prozent; Juden 0,2 Prozent; Armenier 0,2 Prozent) gibt es noch kleinere Minderheiten, die weniger als 100.000 Köpfe zählen, darunter Griechen, Zigeuner, Aserbaidschaner, Georgier und Deutsche.
Ganz offensichtlich haben weder Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, noch Volksgruppen-Schutzmaßnahmen den nunmehr von Präsident Wladimir Putin vom Zaun gebrochenen Krieg, den er und seinesgleichen beschönigend „Spezialeinsatz in der Ukraine“ nennen, offensichtlich nicht vermieden. Putins geopolitische Motive rühren von seinem russo-zentristischen Geschichtsbild her, welches der Ukraine die Eigenständigkeit als Nation und Staat a priori abspricht. Dies hat er in seiner Fernsehansprache vom 21. Februar 2022 aus Anlass des Einmarschs unmissverständlich dargelegt. ( Обращение Президента Российской Федерации, 21 февраля 2022 года, Москва, Кремль / https://www.antispiegel.ru/2022/praesident-putinskomplette-rede-an-die-nation-imwortlaut/ )
Putin – ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof?
Wladimir Wladimirowitsch Putin / Владимир Владимирович Путин tritt mit seinem völkerrechtlich geächteten Angriffskrieg das Selbstbestimmungsrecht mit Füßen. Dafür müsste er sich eigentlich verantworten. So wie sein südslawischer „Bruder“ Slobodan Milošević / Слободан Милошевић wegen der Angriffskriege der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) weiland gegen Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und das Amselfeld/Kosovo polje (diesfalls sogar verbunden mit dem Delikt des Völkermords).
Forderungen nach Putins Verantwortung vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag sind längst lautgeworden. Jüngst hat sich der britische Premier Boris Johnson in diesem Sinne vernehmen lassen. „Was wir schon jetzt von Wladimir Putins Regime gesehen haben bezüglich der Nutzung von Kampfmitteln, die sie bereits auf unschuldige Zivilisten abgeworfen haben, das erfüllt aus meiner Sicht bereits vollkommen die Bedingungen eines Kriegsverbrechens“, sagte er im Unterhaus, dem Parlament. Johnsons Regierungssprecher fügte hinzu, formal sei es Sache internationaler Gerichte, die Frage möglicher Kriegsverbrechen zu klären. Tatsächlich hat der IStGH bereits angekündigt, dies vorzunehmen. Am 28. Februar, unmittelbar nach Beginn des Einmarschs, kündigte Chefermittler Karim Khan bereits an, der IStGH werde „so schnell wie möglich“ eine Untersuchung zu möglichen Kriegsverbrechen in der Ukraine in Gang setzen. Es gebe „hinreichende Gründe für die Annahme, dass sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden“. Vor Ermittlungsbeginn war noch die erforderliche richterliche Zustimmung notwendig.
Prinzipiell ermittelt der IStGH nicht gegen ein Land, sondern gegen einzelne Staatsangehörige. Im vorliegenden Fall würden sich die Ermittlungen auf mögliche Verbrechen aller Kriegsparteien richten. Doch ob es tatsächlich zu einer Anklage sowie einem Verfahren gegen Putin et alii kommen wird, ist recht fraglich. Weder Russland noch die Ukraine gehören zu den 123 Unterzeichnerstaaten des sogenannten Römischen Statuts vom 17. Juli 1998, auf dem die Zuständigkeit des IStGH beruht; trotzdem kann ermittelt werden.
Russland hatte das Statut seinerzeit zwar unterzeichnet, es aber nicht ratifiziert. 2016 zog es seine Unterschrift wieder zurück; offenbar wollte es bereits von der damaligen Chefanklägerin des IStGH angedeuteten Ermittlungen wegen der Annexion der Krim (2014) sowie der Involvierung in die Ausrufung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk durch dortige russische Separatisten (2014) ebenso aus dem Weg gehen wie es sich damit vorsorglich gegen mögliche Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit dem Einsatz seiner Luftwaffe in Syrien wappnete.
Indes könnten die Vereinten Nationen (UN) eigens einen Ad-hoc-Strafgerichtshof – analog dem UN-Kriegsverbrechertribunal („Haager Tribunal“) in der Causa Jugoslawien (Milošević et alii) – einsetzen. Russland wird dagegen als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats gewiss sein Veto einlegen. Ob es China, ebenfalls ständiges Mitglied des Gremiums, ihm gleichtut, muss offen bleiben und hängt wohl von der weiteren Entwicklung im Ukraine-Krieg ab. Bemerkenswerterweise hat sich China, das sich für die Unverletzlichkeit der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine aussprach, in der Abstimmung über die Resolution des UN-Sicherheitsrats zur Verurteilung Russlands wegen des Ukraine-Kriegs der Stimme enthalten.
Grundsätzlich kann vor dem IStGH jeder angeklagt werden, auch Staatschefs, da es vor diesem Gericht keine wie auch immer geartete Immunität gibt. Milošević, ehedem Präsident Serbiens, war das erste vormalige Staatsoberhaupt, gegen das ein internationales Gerichtsverfahren geführt wurde. Er war vor besagtem, eigens wegen der Jugoslawien-Kriege eingeführten „Haager Tribunal“ wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermords angeklagt. Ebenso General Ratko Mladić / Ратко Младић, Kommandeur der bosnisch-serbischen Armee und Hauptverantwortlicher für das Massaker von Srebrenica 1996; er wurde 2017 zu lebenslanger Haft verurteilt. Dasselbe gilt für Radovan Karadžić / Радован Караџић, den einstigen Präsidenten der Republika Srpska in Bosnien-Herzegovina, der 2019 wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Miloševićs wurde man indes nur habhaft, weil ihn der (später ermordete) serbische Regierungschef Zoran Djindjić / Зоран Ђинђић festnehmen und nach Den Haag ausliefern ließ. Doch vor seiner Verurteilung starb Milošević 2006 in Haft.
Gegen einen amtierenden Staatschef wurde indes erst einmal ein internationaler Haftbefehl vom ISTGH erlassen: 2009 gegen den Sudanesen Omar al-Baschir. Er wurde trotz entsprechender Zusage der sudanesischen Regierung (2020) bis heute nicht ausgeliefert. Umso weniger müssen Putin und/oder andere am Militärschlag gegen die Ukraine Hauptbeteiligten fürchten, von Moskau als Kriegsverbrecher nach Den Haag ausgeliefert zu werden.
Phantasmagorien an Tiber und Etsch über die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk
Reynke de Vos
In dem seit 2014 schwelenden Konflikt zwischen der Ukraine und Russland über das Donbass-Gebiet in der Ost-Ukraine hat ein Moskauer Diplomat unlängst einen Sonderstatus für die dort dominanten ethnischen Russen ins Spiel gebracht. So sagte Aleksandr Aleksejewitsch Аwdejew (Александр Алексеевич Авдеев), der russische Botschafter beim Heiligen Stuhl, in einem Interview mit der Zeitung „Il Messaggero“, man könne sich „am Umgang Italiens mit Südtirol orientieren“. In Italien habe es „in den 1950er Jahren große Spannungen im Norden gegeben, wo die deutsche Minderheit eine vollständige kulturelle Autonomie forderte.“ Italien habe „eine faire und ausgewogene Kompromisslösung gefunden, und diese Erfahrung könnte auch für Kiew bei der Lösung der Probleme im Donbass nützlich sein.“
Aleksandr A. Аwdejew (Foto: CC BY-SA 4.0 )
Dass der Hinweis auf den von ihm als „kulturelle Autonomie“ apostrophierten Status Südtirols just von Abdejew kommt hat zum einen mit seiner Herkunft aus Krementschug am Dnjepr im zentralukrainischen Verwaltungsbezirk Poltawa, zum andern mit seiner früheren Funktion als Kulturminister der Russländischen Föderation zu tun. Vor allem aber ist er Teil einer gezielten Strategie: Moskau versucht, das überaus zugängliche Italien nicht zum ersten Mal für seine Ziele dienstbar zu machen. Rom hatte sich nämlich nicht nur bald nach Verhängung der wegen der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion von der EU wider Russland verhängten Sanktionen unter Berufung auf das traditionell freundschaftliche italienisch-russische Verhältnis davon losgesagt. Sein damaliger Kurzzeit-Regierungschef Matteo Renzi und dessen Außenminister Paolo Gentiloni, der ihm dann nachfolgte (und heute der EU-Kommission angehört), hatten anlässlich von Besuchen in Moskau im Gefolge der ostukrainischen Wirren, bei denen Moskau Regie führte und zufolge derer die separatistischen „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk ausgerufen worden waren, überdies als „italienischen Modellfall“ die „Lösung des Südtirol-Konflikts“ zur allfälligen „Befriedung“ angepriesen. Weshalb Abdejews zielgerichtete Stoßrichtung zugleich dem Bemühen galt, Rom möge die EU zu einem Ukraine-Kurswechsel veranlassen.
Luis Durnwalder pflichtet bei
Dass der aus der Ukraine gebürtige russische diplomatische Apparatschik alter „sowjetischer Schule“ beschönigend von einer „fairen und ausgewogenen Kompromisslösung“ sprach, die Italien in Bezug auf Südtirol gefunden habe, mag man entschuldigend dessen in dieser speziellen Frage minderer historisch-politischen Kenntnis anheimstellen. Dass aber ausgerechnet der langjährige frühere Südtiroler Landeshauptmann Luis Dumwalder „diesen Oberlegungen nur beipflichten“ kann, wie die Tageszeitung „Dolomiten“ in ihrer Ausgabe vom 30. Dezember und auf der Plattform stol.it just unter Berufung auf Awdejews Einlassungen vermeldete, erstaunt dagegen umso mehr.
Karte ArchivRdV
Denn gerade Durnwalder weiß als unmittelbarer Angehöriger der Erlebnisgeneration, dass Italien in der Südtirol-Frage von 1945 bis zur „Paket-Lösung“ 1969 respektive zum Autonomiestatut von 1972 alles andere als „nach einer fairen und ausgewogenen Kompromisslösung“ gesucht hatte. Zudem weiß er, welchen Beharrungsvermögens seines Vorgängers Silvius Magnago es bedurfte, im Verein mit maßgeblicher Unterstützung Österreichs, insbesondere durch Bruno Kreiskys Vorstoß in den Vereinten Nationen (UN), sowie nicht zuletzt auch der von Verzweiflung ob der in ihrer Heimat obwaltenden italienischen Zwangsherrschaft bewirkten Aktionen selbstloser BAS-Freiheitskämpfer, dass Rom überhaupt von seiner Unnachgiebigkeit und Italianità-Sturheit abließ. Und hat schließlich in Nachfolge Magnagos als Landeshauptmann selbst genügend Erfahrung im Umgang mit trickreichen bis hinterlistigen römischen Regierungen, mit Institutionen der italienischen Zentralstaatsgewalt sowie auch und vor allem deren stets die „eine, ungeteilte Nation“ sowie die gesamtstaatliche „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ (AKB) verabsolutierenden Justizinstanzen gesammelt, um derart gefälligen, aber zutiefst geschichtswidrigen Beschönigungen, womit ja auch die römische Politik stets hausieren geht, entgegenzutreten anstatt sie quasi öffentlich zu goutieren.
Realistischer Blick auf die Südtirol-Autonomie
Wie steht es denn, realistisch betrachtet, um die Südtirol-Autonomie? Quer durch alle italienischen Parlamentsparteien gibt es einen Konsens für mehr Zentralismus. Dagegen kann Südtirol nichts ausrichten, es ist „zu klein und zu irrelevant“, so der Befund eines Italieners, des früheren Senators Francesco Palermo, der seinen Senatssitz dem damaligen Zusammenwirken von Südtiroler Volkspartei (SVP) und Partito Democratico (PD) im Wahlkreis Südtiroler Unterland verdankte. Überall dort, wo es trotz Autonomie-bestimmungen rechtliche Interpretationsspielräume gibt oder eine Frage vor dem Verfassungsgerichtshof ausgefochten werden muss, machen sich die zentralistische Staatsordnung und der Primat des nationalen Interesses bemerkbar. Von Anfang an, d.h. seit 1945, war die staatliche italienische Gesamtordnung zentralistisch, und selbst mit der auf mehr Föderalismus zielenden Verfassungsreform von 2001 war es damit in jener vom ehemaligen Regierungschef Matteo Renzi 2014 ins Werk gesetzten vorbei, sodass der Zentralstaat die Autonomie Südtirols trotz jener von der SVP beschworenen Schutzklausel weiter aushöhlte und den Bozner Handlungsspielraum erheblich einengte. Eine dynamische Entwicklung im Sinne jenes ausgeprägten Autonomieanspruchs wie ihn die SVP seit der Streitbeilegungserklärung gegenüber den UN 1992 vorgab und als Ziel die „Vollautonomie“ propagierte, wurde damit unterbunden; stattdessen öffnete sich sukzessiv die Schere zwischen römischem Zentralismus und der Selbstverwaltung der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol und feierte während der mit Notverordnungen operierenden Regierungszeit des Mario Monti fröhliche Urständ.
Selbstverständlich ist es einem verdienstvollen Mann wie Durnwalder unbenommen, das „Südtiroler Modell, so wie ich das sehe“ in Übertragung auf „die beiden Teilrepubliken“ für „eine gute und außerdem realistische Lösung“ zu halten, „die übrigens auch in Moskau Akzeptanz finden dürfte“, zitierten ihn die „Dolomiten“. Zu widersprechen ist ihm jedoch hinsichtlich der von ihm verwendeten Begrifflichkeit: Es handelt sich nämlich nicht um „Teilrepubliken“, vorerst auch nicht nach dem Verständnis derer, die die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk ausriefen, denn sie sahen und sehen sich, wenngleich sie stets von Moskau unterstützt wurden und mehr denn je werden, nicht als territoriale Glieder der Russischen Föderation, sondern als eigenstaatliche Entitäten mit entsprechenden Institutionen (Regierungen, Parlamenten, Justizeinrichtungen, Militärverbänden etc etc.), die allerdings nur von Moskau anerkannt sind. Grundsätzlichen Widerspruch verdient indes Durnwalders ebenfalls von den „Dolomiten“ zitierte Aussage, wonach „die Lage der russischen Minderheit in der Ost-Ukraine durchaus mit jener der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols nach Kriegsende vergleichbar“ sei. Dies selbst nur mit dem beliebten „Äpfel-mit-Birnen-Vergleich“ zu konterkarieren, wäre ungenügend, weil das eine mit dem anderen wenig bis nichts zu tun hat und der Vergleich wenn vielleicht nicht ganz falsch ist, so doch hinkt.
Mangelnde Kenntnis der historisch-politischen Gegebenheiten
Wie auch immer er zu dieser Einschätzung gelangt sein mochte, ob er sie während seiner umstrittenen Teilnahme am „Internationalen Forum ,Donbass: Gestern, heute und morgen‘“ im Mai 2015 in Donezk gewann, wohin er eingeladen war, die Südtirol-Autonomie zu erläutern, weswegen ihn die Ukraine (und mit ihm alle anderen westlichen Konferenzteilnehmer) zur Persona non grata erklärte, ist nicht wirklich von Belang. Faktum ist indes, dass er damit nicht nur völlig danebenliegt, sondern auch ein gerüttelt Maß politischer Ignoranz und Unbelecktheit hinsichtlich der ethnischen, kulturellen, sprachlichen, konfessionellen, kirchlichen sowie staats- und völkerrechtlichen Gegebenheiten der östlichen Ukraine offenbart. Vor allem zeigt Durnwalder, dass er von den geschichtlichen Rahmenbedingungen und historischen Entwicklungslinien der ukrainischen wie der russischen Staatlichkeit im Rahmen der vormaligen Sowjetunion (1922-1991) sowie im Rahmen ihrer danach in freier Selbstbestimmung erlangten Souveränität als voneinander unabhängige Staaten ebensowenig Kenntnis hat wie von beider mitunter verschränktem, meist aber abweichenden Geschichtsbild, was darüber hinaus für die von beiden in Anspruch genommenen Befunde über Nationsbildung und Nationalbewusstsein gilt.
Durnwalder (2.von links) während einer Pressekonferenz aus Anlass des „Internationalen Forums ,Donbass: Gestern, heute, morgen“ 2015 im ostukrainischen Donezk (Foto: ENRJMW www.alamy.com )
Eine wie auch immer geartete historisch-politische Parallelität zwischen deutsch-österreichischen Südtirolern und der ethnisch-russischen Mehrheits- bzw. ukrainischen Minderheitsbevölkerung der Ost-, Südost- und Südukraine zu sehen, geht sowohl für die Zeit nach dem Zweiten, als auch für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fehl; ganz zu schweigen von den in diesem Raum präsenten Angehörigen anderer Nationalitäten. Die Russen im soeben definierten Raum, insbesondere in der infrage stehenden, vom Kohlebergbau geprägten Donbass-Region mit den beiden Gebietsverwaltungsbezirken (области/Oblasti) Donezk (ukrainisch: Донецька область/Donezka Oblast; russisch: Донецкая область / Donezkaja Oblast) und Luhansk (ukrainisch: Луганська область/ Luhanska Oblast) bzw. Lugansk (russisch: Луганская область / Luganskaja Oblast ), innerhalb derer sich die nur vom benachbarten Russland anerkannten, einseitig ausgerufenen sogenannten Volksrepubliken Donezk – am 7. April 2014 als Донецкая народная республика / Donezkaja Narodnaja Respublika (DNR) ausgerufen – und Lugansk – am 27. April 2014 als Луганская народная республика / Luganskaja Narodnaja Respublika LNR ausgerufen – abspalteten, waren stets Mehrheit.
Die nationale Frage vor und nach der Sowjetunion
Die nationale Frage oder die Frage der ethnisch-nationalitätenpolitischen Zugehörigkeit stellte sich nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Untergang der moskowitisch-imperialen Zaren-Autokratie allenfalls in der zeitgeschichtlich kurzen Phase einer westukrainischen Eigenstaatlichkeit zwischen bolschewistischer Oktoberrevolution 1917, dem sich anschließenden Bürgerkrieg und dem Sieg der Bolschewiki des Wladimir Iljitsch Uljanow (bekannt als Lenin) mit darauffolgender Gründung der Sowjetunion 1922 (amtliche Form UdSSR / CCCP; Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken / Союз Советских Социалистических Республик / Sojus Sowjetskich Sozialistitscheskich Respublik), der die Ende 1918 ausgerufene Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (UkrSSR/ УССP; Украинская Советская Социалистическая Республика / Ukraїnskaja Sozialistitscheskaja Respublika) beitrat, in der Ost-Ukraine dagegen überhaupt nicht. Hierbei ist – insbesondere wegen des fundamentalen Unterschieds zur Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg – die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) – darauf hinzuweisen, dass in der Ukraine als einer politisch-territorialen Formation, welche aus dem infolge der Oktoberrevolution 1917 untergegangenen zaristischen Russland im Entstehen begriffen war und schließlich 1922 durch den Sieg der Bolschwiki Glied der Sowjetunion war, eben nicht ein derartiger Konflikt entstehen konnte, wie ihn die Annexion des südlichen Tirol 1918 durch und dessen völkerrechtliche Übereignung an Italien 1919 durch das „Friedensdiktat“ von St. Germain-en-laye hervorrief.
Auch nach dem Sieg im von Diktator Generalissimus Stalin (eigentlich Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili) so genannten „Großen Vaterländischen Krieg“ 1945 änderte sich daran in der Ukraine nichts, ganz gleich ob es sich um die West-, um die Zentral- oder um die Ost-Ukraine handelte. Denn die Nationalitätenfrage im totalitären Machtgefüge der ideologisch dem Internationalismus huldigenden Einparteiherrschaft der KPdSU im Zentrum Moskau war formell nicht existent und wenn überhaupt, dann konnte sie sich allenfalls im vom Geheimdienst KGB niedergehaltenen Samisdat-Untergrund spärlich regen. Was man zudem für diese Periode ebenfalls nicht aus den Augen verlieren sollte ist ein nahezu als delikat zu bezeichnender Umstand, nämlich dass so gut wie alle führenden aus der UkrSSR/YCCP in die beiden zentralen Machtgremien der allein bestimmenden KPdSU entsandten Mitglieder von Zentralkomitee (ZK) und Politbüro (PB) ethnische Russen waren. (Ich nenne hier ausdrücklich die einflussreichtsten, wie Wjatscheslaw Michajlowitsch Molotow/ Вячеслав Михайлович Молотов; Lazar Moissejewitsch Kaganowitsch / Лазарь Моисеевич Каганович; Nikita Sergejewitsch Chruschtschow (Никита Сергеевич Хрущёв); Nikolaj Wiktorowitsch Podgornyj (Николай Викторович Подгорный); Wladimir Antonowitsch Iwaschko / Владимир Антонович Ивашко. Zu den wenigen Ausnahmen gehören Wolodymyr Wassyljowytsch Schtscherbyzkyj / Володимир Васильович Щербицький und Petro Schelest / Петро Шелест.)
Russische Minderheiten
Erst mit dem Systemkollaps, dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft und der Auflösung der Sowjetunion 1991/1992 kam zum Vorschein und regte sich, was während der sieben Jahrzehnte, in denen es zur propagierten Partei- und Staatsadoktrin gehörte, den von nationalen Regungen losgelöst-entfremdeten, internationalistisch denkenden und handelnden „Sowjetmenschen“ zu schaffen, das Bewusstsein vom Nationalen überlagert hatte. Mit der Souveränitätserklärung der aus der Sowjetunion hervorgegangenen Nationalstaaten rückten allmählich auch nationale Minderheiten und Volksgruppen in den Blick. Wobei es nun überall dort, wo während der Phase der Zugehörigkeit zur Sowjetunion aufgrund politscher, ökonomischer und sozialer „Vergemeinschaftung“ unter Moskauer Suprematie vermehrt ethnische Russen hinkamen und meist auch die führende Schicht bildeten, diese sich nach den jeweiligen Souveränitätserklärungen respektive Referenden/Volksabstimmungen als Minderheiten wiederfanden. So in den baltischen Republiken Estland (Volksabstimmung 3. März 1991; russische Minderheit 25,5 Prozent), Lettland (Unabhängigkeitserklärung 4. Mai 1990; russische Minderheit 27 Prozent) und Litauen (11. März 1990; Russen 5,8 Prozent). So auch in den zentralasiatischen Ländern Kasachstan (16. Dezember 1991; Russen 24 Prozent), Turkmenien (27. Oktober 1991; Russen 7 Prozent), Kirgisien (31. August 1991; Russen 12,5 Prozent), Usbekistan (1. September 1991; Russen 5,1 Prozent), Tadschikistan (9. September 1991; Russen 0,5 Prozent) und Aserbaidschan (18. Oktober 1991; Russen 1,3 Prozent), sodann Armenien (23. August 1990; Russen 0,09 Prozent), Georgien (9. April 1991; Russen 1,5 Prozent), Moldova (27. August 1991; Russen 4,1 im Landesteil westlich des Dnjestr sowie 30,3 Prozent im östlichen Landesteil, dem 1992 abgespaltenen Transnistrien) , Weißrussland / Belarus (25. August 1991; Russen 8,3 Prozent) und schließlich die Ukraine (24. August 1991; Russen 22,1 Prozent).
Entgegenstehende Fakten
Entscheidend für die im Mittelpunkt stehende Auseinandersetzung mit der These des früheren Südtiroler Landeshauptmanns, wonach die Situation im Donbass jener in Südtirol ähnele, sind Fakten und Umstände, welche seiner Betrachtung entgegenstehen. Man mag seine These gelten lassen, dass in den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk (russisch Lugansk) „die Zusammensetzung der Volksgruppen mit jener Südtirols vergleichbar“ sei: „Zwei Drittel Russen und ein Drittel Ukrainer“ führt er an und sieht dies als Parallele zu zwei Drittel Deutschsüdtirolern und einem Drittel Italienern. Nur bleibt dabei etwas Fundamentales außen vor: Im Gegensatz zu den mittels Friedensdiktats von 1919 zu Staatsbürgern Italiens erzwungenen Deutschsüdtirolern, denen auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Selbstbestimmung verweigert wurde, haben die Ukrainer jedweder ethnischen Identität bzw. Volks- respektive Minderheitenzugehörigkeit sich am 1. Dezember 1991 bei einer Wahlbeteiligung von 84 Prozent zu 92,3 Prozent für die Unabhängigkeit in einem völkerrechtlich unanfechtbaren selbstbestimmten Referendum für die Souveränität der Ukraine und damit für die ukrainische Staatsbürgerschaft entschieden: Ukrainer (Bevölkerungsanteil 72,7 Prozent), Weißrussen (0,9 Prozent), Rumänen/Moldawier (0,9 Prozent), (Krim-) Tataren (0,7 Prozent), Bulgaren (0,5 Prozent); Ungarn und Polen (jeweils 0,4 Prozent), Armenier und Griechen (jeweils 0,2 Prozent), Zigeuner, Juden, Aseris/Aserbaidschaner, Gagausen und Deutsche (jeweils 0,1 Prozent). Ausdrücklich sei vermerkt, dass sich auch 55 Prozent aller ethnischen Russen (mit einem Bevölkerungsanteil von 22,1 Prozent größte Minderheit des Landes), somit mehrheitlich für die Eigenstaatlichkeit der Ukraine entschieden und damit – nicht nur nebenbei bemerkt – den Wunsch des Präsidenten Boris Nikolajewitsch Jelzin (Борис Николаевич Ельцин), des ersten aus freien demokratischen Wahlen hervorgegangenen Staatsoberhaupts Russlands, unerfüllt bleiben ließ, nämlich dass die Ukraine Bestandteil Russlands, fortan in Form einer Föderation, bleiben sollte; dies wusste der selbstbewusste damalige unkrainische Präsident Leonid Makarowitsch Krawtschuk (Леонид Макарович Кравчук ) zu unterlaufen.
Aus der „Kiewer Rus“ folgende Geschichtsbilder
Die Ukraine oder besser jene geschichtlich relevanten Vorläufer-Formationen, die für das heutige ukrainische wie für das russische Territorium konstitutiv gewesen sind, waren beim „Eintritt Russlands in die Geschichte“ mit der „Kiewer Rus/ Киевская Русь“ Teil jenes im 9. Jahrhundert sich herausbildenden und im 11. Jahrhundert wieder zerfallenen mittelalterlichen altostslawischen Großreichs, das als Vorläufer der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus/Weißrussland gilt. Vom der Bezeichnung „Rus“ (Volk) leiten sich übrigens die Ethnonyme der Russen und Weißrussen ab, ebenso die Namen Rusynen, Ruthenen und Kleinrussen, mit denen die Ukrainer über mehrere Jahrhunderte vor allem während ihrer Zugehörigkeit zu Polen-Litauen und zu Österreich-Ungarn bezeichnet wurden.
Einschüchterung und Verstoß gegen „Pacta sunt servanda“
Putins historisch-politischen Einlassungen können allerdings nicht bedeuten, dass wir zugleich die damit verbundene Einschüchterung gegenüber dem billigen, was die 2010 unter seinem interimistischen Vorgänger Dimitrij Anatoljewitsch Medwedjew (Дмитрий Анатольевич Медведев) entstandene Militärdoktrin, bei der Putin als Regierungschef die Feder führte, als „nahes Ausland“ (ближнее зарубежье/Blischneje Sarubeschje) und also „russische Interessensphäre“ (Российская сфера влияния/Rossijskaja Sfera Blijanija) bezeichnete und im Zusammenhang damit ein Interventionsrecht „zum Schutze russischer Bürger“ postulierte. (Gemeint sind insbesondere die baltischen Staaten, die dadurch ihre Sicherheit gefähdet sehen und aus historischer Erfahrung rasch den Weg in Nato und EU beschritten, die Ukraine, Georgien sowie die zentralasiatischen Staaten, die alle nicht unbedeutende russische Minderheiten aufweisen.) Insbesondere in dem hier im Vordegrund stehenden Konflikt mit der Ukraine im Falle der genannten Donbass-„Volksrepubliken“ mit ihren nicht anerkannten, nachgeschobenen „Referenden“ oder gar faktische militärische Eingriffe wie im Falle der Krim-Annexion mit ebenfalls nicht anerkannter nachgeschobener „Volksabstimmung“ 2014 ist dies nicht akzeptabel. Denn damit hat Russland als „Fortsetzerstaat der Sowjetunion“ (gemäß der klassischen Formel „Pacta sunt servanda“) gegen mehrere völkerrechtlich verbindliche Abmachungen/Verträge verstoßen:
Gegen die Schlussakte von Helsinki (1975), in der sich die Sowjetunion wie alle anderen Teilnehmerstaaten zur „Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt“ ebenso verpflichtete wie zur „Unverletzlichkeit der Grenzen aller Staaten in Europa“.
Gegen die „Charta von Paris“ (1990), worin „in Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen gemäß der Charta der UN und der Schlußakte von Helsinki“ das „feierliche Versprechen erneuert“ wird, sich „jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt oder jeder sonstigen mit den Grundsätzen oder Zielen dieser Dokumente unvereinbaren Handlung zu enthalten“, wobei „die Nichterfüllung der in der Charta der UN enthaltenen Verpflichtungen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt. Die Teilnehmerstaaten betrachten gegenseitig alle ihre Grenzen sowie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich und werden deshalb jetzt und in der Zukunft keinen Anschlag auf diese Grenzen verüben.“ Und schließlich
Gegen das „Budapester Memorandum“ (1994), worin sich die Vereinigten Staaten von Amerika (USA), Großbritannien und Russland in drei getrennten Erklärungen jeweils gegenüber Kasachstan, Weißrussland und der Ukraine als Gegenleistung für deren Nuklearwaffenverzicht (und Überstellung aller dort vorhandenen Nuklearwaffen an Russland als den „Fortsetzerstaat“ der Sowjetunion) „verpflichten, die Souveränität und die bestehenden Grenzen“ dieser Länder ebenso zu achten wie die schon bestehende Verpflichtung zur Enthaltung von Gewalt gemäß UN-Charta. Das Dokument wurde von allen betroffenen Ländern unterzeichnet, und China sowie Frankreich gaben zur Sicherheitsgarantie der Ukraine ausdrücklich eigene Erklärungen ab.
Der guten Ordnung und Redlichkeit der Betrachtung halber ist in diesem Zusammenhang allerdings darauf hinzuweisen, dass „der Westen“ (wie es in Moskauer Lesart heißt), besser: die Nato unter Führung der USA, auch mehrfach gegen Völkerrecht verstieß. Hierfür sei quasi pars pro toto auf einen Fall dieser Art verwiesen: So hat der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags den auch von Deutschland unterstützten Militärschlag der USA, Großbritanniens und Frankreichs gegen Syrien als völkerrechtswidrig eingestuft. „Der Einsatz militärischer Gewalt gegen einen Staat, um die Verletzung einer internationalen Konvention durch diesen Staat zu ahnden, stellt einen Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot dar“, heißt es in dem Gutachten; es könnte natürlich gleichfalls für das dortige militärische Engagement Russlands gelten, ganz zu schweigen von den militärischen Interventionen in Afghanistan (2001; zuvor durch die Sowjetunion 1979), im Irak (2003), in Libyen 2011 etc. etc. Und dass die USA, wie es auch Durnwalder richtigerweise ansprach, in der Ukraine ihre Interessen verfolgen und daher die „Hand im Spiel“ haben, würden wohl allenfalls politisch Unbedarfte bzw. Ignoranten bestreiten.
Die geschichtliche Entwicklung
Die Ukraine und die Historiographie des Landes stellt zwar nicht die Gemeinsamkeiten mit sowie die Zugehörigkeit zu Russland und zur Sowjetunion infrage – dies wäre ohnehin paradox und ahistorisch – , gleichwohl aber wehren sie sich gegen die großrussisch-moskowitische Insinuation à la Putin sowie die daraus entstandenen und damit einhergehenden politisch-militärischen Konflikte. Die Ukraine darf zurecht auch eine eigen(ständig)e nationale Identität für ihr Staatsvolk in Anspruch nehmen, weil auch die russische Minderheit, insbesondere dort, wo sie zahlenmäßig am stärksten ist, nämlich im Osten und Süd(ost)en des Landes, bei der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts – hier ist wieder Hinweis auf dessen zweimalige Verweigerung für die Südtiroler zwingend – im seinerzeitigen Referendum nach Untergang der Sowjetunion mehrheitlich für die Eigenstaatlichkeit, damit für die Souveränität und die nationale Identität des Landes, stimmten. Und weil die ukrainische und russische Historiographie zwar Phasen der Gemeinsamkeiten – der volklichen, der staatlichen und der territorialen – aber ebenso umfängliche Phasen der Trennung für die gut 1100 Jahre seit beider „Eintritt in die Geschichte“ aufweisen. Es ist hier nicht der Raum, um die geschichtliche Komplexität auch nur ansatzweise darstellen zu können. Es mögen daher nur einige wirkmächtige historisch-politische Facetten darauf genügen.
Kyjiw (Київ), also Kiew, ist nicht nur die Metropole der Ukraine (Україна/Ukrajina; russisch Украина/Ukraina), sondern auch das älteste Siedlungszentrum auf dem Boden des altrussischen Reiches, der Kiewer Rus (russisch Киевская Русь, ukrainisch Київська Русь, weißrussisch Кіеўская Русь). Nach ihrer Auflösung im 11. Jahrhundert und der allmählichen Verlagerung des Zentrums nach Norden bildete sich im Westen der Ukraine ein neues Zentrum um die Fürstentümer Wladimir und Galitsch (daher später die Bezeichnung Galizien). Sie fielen Mitte des 14. Jahrhunderts an Polen; über den Rest, einschließlich Kiews, herrschte das aufstrebende Großfürstentum Litauen, nach der Union mit Polen 1569 gehörte nahezu das ganze Territorium der heutigen Ukraine zum polnisch-litauischen Königreich, dessen Territorium sich bis zum Schwarzen Meer erstreckte. Im 17. Jahrhundert kam die Ukraine links des Dnjepr zu Rußland. Mit den russisch-preußisch-österreichischen Teilungen Polens fielen Galizien und die Bukowina an Österreich. In den unter habsburgischer Herrschaft stehenden ukrainischen Gebieten entwickelte sich nach 1848 eine Nationalbewegung, die sich gegen das in Galizien dominierende Polenturn richtete und um politische Selbstverwaltung kämpfte. Diese historische Entwicklung hatte auch zur Folge, dass es in der Ukraine die beiden dominanten Konfessionen gibt: die mit dem Papst unierte Ukrainische griechisch-katholische Kirche (Українська греко-католицька церква; im Westteil des Landes) sowie die Ukrainische Orthodoxe Kirche, die dem mächtigen und mit der Staatsmacht verbundenen Moskauer Patriarchat untersteht (im Zentrum, im Süden und Osten des Landes). Davon spaltete sich 2018 auf Betreiben Kiews die (nach wie vor geringere Bedeutung entfaltende) Orthodoxe Kirche der Ukraine ab, die dem formell wichtigen, aber kirchen- und realpolitisch minderbedeutenden Patriarchen von Konstantinopel unterstellt ist.
Unter den zu Russland gehörenden Ukrainern, den „Kleinrussen“, entstanden erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ukrainische Parteien. Die Nationalbewegungen beider Provenienzen versuchten nach der Oktoberrevolution 1917, gefördert vom Deutschen Kaisserreich, sowie nach dessen und der österreichisch-ungarischen Habsburgermonarchie Zusammenbruch die Errichtung eines ukrainischen Staatswesens. 1919 riefen die Bolschewiki die UkrSSR aus; die Westukraine gehörte seit Sommer zu Polen, die ehedem zu Ungarn gehörige Karpato-Ukraine wurde Teil der Tschechoslowakei, fiel aber nach 1945 wieder an die UkrSSR, damit die Sowjetunion, zurück. Stalin hat den in den 1920er und 1930er Jahren auch als Folge der Zwangskollektivierung und des Holodomor (der erzeugten Hungersnot, der 4.000.000 Ukrainer zum Opfer fielen) abermals aufkeimenden ukrainischen Nationalismus grausam verfolgt. Viele Ukrainer wurden nach Sibirien und Mittelasien deportiert. Ebenso erging es den Krimtataren sowie den Wolynien-, Schwarzmeer- und Wolgadeutschen; letztere durften zwischen 1924 und 1941 eine Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) ihr Eigen nennen. Allen wurde Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht vorgeworfen.
Nach dem Untergang der Sowjetunion
Es war nicht Zufall, daß die sowjetrussische Geschichtsschreibung unablässig darauf verwies, nach der Oktoberrevolution habe die Ukraine als eine der ersten Republiken den Wunsch geäußert, sich mit der Russischen Föderation zu vereinigen, weil sie die Wiege der ostslawischen Völkerfamilie gewesen sei. Der wahre Grund lag darin, daß auch in der Ukraine die Bolschewiki die Macht übernommen hatten, um die Sehnsucht der Ukrainer, ihr Nationalbewußtsein, mit einem eigenen Staat zu krönen, zunichte zu machen. Bei den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Sowjetunion 1972 war die „multinationale Sowjetgesellschaft“ beschworen worden. Unter dieser Chiffre verbarg sich in Wirklichkeit aber die Fortsetzung des rigiden Russifizierungsprozesses, dem die nichtrussischen Völker seit der „Sammlung der russischen Erde“ nach Abschütteln des Tatarenjochs sowie der Krönung des Moskauer Großfürsten Iwan IV./Iwan Grosnyj/Iwan der Schreckliche zum ersten Zaren und fortan während des gesamten autokratischen Zartums Russland bis Nikolaus II. unterlagen.
Damals nahmen die Regungen nationalen Eigenständigkeitsbewußtseins zu. Der Anteil der nichtrussischen überstieg allmählich den der russischen Bevölkerung, vor allem wegen der höheren Geburtenraten in den zentralasiatischen und kaukasischen Republiken. Gegen die Russifizierung wandten sich, vorwiegend auch aus religiös-nationalen Gründen, Juden, Balten, Ukrainer und Krimtataren. Als der Atomphysiker Andrej Sacharow in einem Memorandum die Demokratisierung der UdSSR forderte, setzte die Kremlführung die althergebrachten Instrumente zur Disziplinierung und Unterwerfung der unbotmäßigen Dissidenten- und Nationalitätenbewegungen ein: politische Strafprozesse, langjähriger Freiheitsentzug in Gefängnissen und Lagern, Zwangseinweisung in Nervenheilanstalten, freiwillige oder Zwangsemigration und Ausbürgerung. Der spektakulärste Fall war die Ausweisung des Literaturnobelpreisträgers Solschenizyn. 1974 waren den internationalen Menschenrechtsorganisationen 10.000 politische Häftlinge bekannt. Angesichts dieser tiefsitzenden historischen Erfahrungen war es nur umso verständlicher, dass mit dem Systemkollaps 1990/1991 die nichtrussischen Völker einschließlich der Ukrainer die „Gunst der Stunde“ für nationale Souveränität und Eigenstaatlichkeit nutzten.
In der Ukraine stellten Ukrainisch und Russisch als die beiden maßgeblichen sprachlichen Verständigungsmittel kein Hindernis dar, da sie sich nur geringfügig (in Phonetik und Graphematik) voneinander unterscheiden, die ukrainische Bevölkerung beider Sprachen mächtig ist. In der Ost-Ukraine fühlen sich die mehrheitlich ethnischen Russen nicht durchweg zu Russland bzw. dem Russentum hingezogen. Dies ist übrigens besonders daran zu erkennen, dass die beiden sezessionistisch aus der Urkaine fortstrebenden „Volksrepubliken“ DNR und LNR territorial und bevölkerungsmäßig nicht mit den eigentlichen ukrainisch-staatlichen Verwaltungsbezirken Donezk und Lugansk übereinstimmen, deren „Herrschaft“ sich allenfalls zu zwei Dritteln auf besagte Verwaltungsbezirke erstreckt. Dennoch spielt die ukrainische Sprachpolitik eine nicht zu unterschätzende Rolle, zumal der Konflikt mit den beiden „Volksrepubliken“ und mit Russland durch das umstrittene Sprachgesetz weiter befeuert wurde. Das Gesetz, 2019 vom damaligen Präsidenten Petro Oleksijowytsch Poroschenko / Петро Олексійович Порошенко nach mehrjährigen Debatten, Abstimmungen, Novellen, Verfassungsgerichtsentscheid und Befassung der Venedig-Kommission des Europarats unterzeichnet, erklärt das Ukrainische zur verbindlichen Staatssprache und weist dem Russischen nebst „kleineren“ Sprachen wie Bulgarisch, Polnisch, Rumänisch und Ungarisch den Minderrang von Regionalsprachen zu, wobei in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen bis zu den Hochschulen Ukrainisch verpflichtender Standard und Unterrichtssprache ist. Nicht nur mit Russland, das die Angelegenheit bis vor die UN trug, sondern auch mit Ungarn, das die sich zurecht zurückgesetzt fühlenden 200.000 ethnischen Magyaren der Karpato-Ukraine unterstützt, führte dies zu ernsthaften Auseinandersetzungen, sodass Budapest stets und überall bekundet, es werde die politischen Belange der Ukraine gegenüber EU und Nato torpedieren, solange Kiew keinen wirksamen Minderheitenschutz walten lasse und das diskriminierende Sprachgesetz inkraft sei.
Das Minsker Abkommen
Hinsichtlich des ukrainisch-russischen Konflikts um die „Volkrepubliken“ Donezk und Lugansk ist schließlich auf das Minsker Abkommen – 2015 geschlossen und unterzeichnet von den Präsidenten Putin (Russland) und Poroschenko (Ukraine) sowie der deutschen Kanzlerin Merkel und dem französischen Präsidenten Hollande – hinzuweisen, worin ausdrücklich die „uneingeschränkte Achtung der Souveränität und der territorialen Unversehrtheit der Ukraine bekräftigt“ worden ist. In einem der insgesamt 13 enthaltenen Punkte des Abkommens war festgelegt, dass mittels einer ukrainischen Verfassungsänderung eine Dezentralisierung des Landes mit der Gewährung eines „Sonderstatus für die Gebiete in der Ost-Ukraine“ vorzusehen sei. Im Rahmen dessen sollte die „sprachliche Selbstbestimmung“ der Bevölkerung und eine „enge, grenzüberschreitende Kooperation der Gebiete von Lugansk und Donezk mit den angrenzenden russischen Grenzgebieten festgeschrieben“ werden. Russland hatte sich zudem verpflichtet, die territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren und am Ziel einer friedlichen Reintegration der „bestimmten Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk/Lugansk“ mitzuwirken.
Gastgeber und Unterzeichner des Minsker Abkommens im Februar 2015: Lukaschenka, Putin, Merkel, Hollande, Poroschenko (Foto: CC-BY 4.0 )
Aus der „Gewährung eines ,Sonderstatus für die Gebiete in der Ost-Ukraine‘“ wurde am Tiber durch den russischen Botschafter beim Vatikan quasi zweckdienlich sowie zuvor bereits durch die italienischen Kurzzeit-Ministerpräsidenten Renzi und Gentiloni, um sich für Italien die angeblich vorbildliche Lösung des Südtirol-Konflikts sozusagen ans Revers zu heften – wozu Rom, wie wir wissen, gezwungen werden musste – sowie an der Etsch durch den im Altenteil befindlichen früheren Landeshauptmann Durnwalder allzu nassforsch und im eifernden Beglückungston der „Wir Südtiroler“-Attitüde interpretiert, es handele sich um eine Autonomie und es böte sich just jene der Provincia autonoma di Bolzano – Alto Adige / Autonomen Provinz Bozen-Südtirol quasi als „Export-Modell“ an.
Selbst wenn im Minsker Abkommenstext tatsächlich „Autonomie“ vorkäme, so hätten sich die vorlauten Lösungskompetenz-Prediger erst einmal damit vertraut machen sollen, was man in Moskau, Kiew, Donezk und Lugansk unter besagtem Begriff überhaupt versteht. Wer die historisch-politischen Gegebenheiten dessen kennt, was die Sowjetunion einst darunter verstand, wo es 20 derartige Gebilde namens „Autonome Republiken“ gab, und was in Russland, wo es deren 85 „Föderationssubjekte“ in Gestalt von 22 „Autonomen Republiken“ (einschließlich der annektierten Krim), 9 „Autonomen Regionen“ (Kraja/ края ), 47 „Autonomen Gebieten“ (Oblasti/ Области) sowie 4 „Autonomen Kreisen“ (Okruga/Округа) gibt, die an Größe und Zuständigkeiten differieren, aber wie einst in der Sowjetunion auch in Russland der Moskauer Zentralgewalt unterworfen und auf Transferleistungen von dort angewiesen sind, kann dies kaum mit jener Südtirol-Autonomie nach zweitem Statut von 1972 in Einklang bringen. Eher schon mit der geschröpften Reduktionsform (spätestens) seit Mario Monti, wogegen sich die zwar zur Wehr setzende maßgebliche Regierungspartei in Bozen nicht wirklich durchsetzen konnte und dennoch wider besseres Wissen in der politischen Auseinandersetzung gern unter dem Schlagwort „Dynamik“ unters Wahlvolk streute.
Verfehlte Perspektive
Summa summarum goutiert man nicht unbesehen die schmeichlerischen Töne eines russischen Diplomaten, selbst wenn dieser eigens von Putin auf diesen Posten berufen worden ist und als solcher im Vatikan ein und aus geht. Vor allem aber lässt man sich nicht ohne die notwendigen Grundkenntnisse über die Andersartigkeit historisch-politischer Gegebenheiten bzw. ohne Rat von Fachleuten – wie dies beispielsweise der frühere österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel tat, wenn er gen Moskau reiste und den Grazer Historiker Stefan Karner mit dabei hatte, der einer der besten Kenner der aus der Sowjetunion hervorgegangenen slawischen Staaten ist – zu (zwar durchaus gut gemeinten) Vorschlägen aus der spezifischen Provinzperspektive verleiten. Diese dürften von den Akteuren im weltpolitisch bedeutsamen Russland-Ukraine-Konflikt eher belächelt werden.
Man nennt sie, die der Volksmund „Bumser“ hieß, gemeinhin Aktivisten des BAS (Befreiungsauschuss Südtirol), mitunter auch Widerstandskämpfer. In den Augen von Italienern und leider auch von Antifa-Zeitgenossen sowie Italophilen, wie sie nicht selten auch in ihrer Heimat zu finden sind, waren/sind es – milde ausgedrückt – Attentäter, im politisch-korrekten italo-römischen Jargon indes Terroristen. Ich hingegen scheue mich nicht, sie so zu nennen, wie sie sich selbst sahen und von heimatbewussten deutsch-österreichischen Patrioten als solche erachtet werden – Freiheitskämpfer.
Sepp Mitterhofer, der unlängst im 90. Lebensjahr verstorbene Obstbauer vom Unterhasler-Hof in Meran-Obermais, war deren einer der letzten, die sich einst mit dem legendären BAS-Gründer Sepp Kerschbaumer, einem Greißler und Kleinbauern aus Frangart, zusammengetan hatten, um in konspirativen Klein- und Kleinstgruppen daran mitzuwirken, die Welt(öffentlichkeit) auf die vom „demokratischen“ Nachkriegsitalien in nach wie vor totalitärer Gebärde sowie partiell fortgeltender faschistischer (Un-)Gesetzlichkeit betriebene Entnationalisierung ihrer Heimat aufmerksam zu machen. Rom hatte trotz der zwischen seinem Regierungschef Alcide DeGasperi und dem österreichischen Außenminister Karl Gruber 1946 in Paris vereinbarten Autonomie-Übereinkunft für das seit dem (Unrechts-)Vertrag von Saint-Germain-en-Laye 1919 Italien zugesprochene südliche Tirol, dem die Siegermächte sowohl nach dem unglückseligen Ersten Weltkrieg, als auch nach dem verhängnisvollen zweiten Weltenbrand die Selbstbestimmung verweigert hatten, die unter Mussolini ins Werk gesetzte systematische Italianisierung des Landes zwischen Brenner und Salurn unablässig fortgeführt. Erbarmungslos ließen die Bozner Statthalter der italienischen Staatsmacht die angestammte Bevölkerung partiell unterjochen.
Die Aktivisten des BAS verlangten, worauf kein Geringerer als Sepp Mitterhofer in vielen seiner späteren öffentlichen Mahnrufe stets hinwies, nämlich die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch den in einen wesensfremden Staat gezwungenen Tiroler Volksteil. Sie wandten sich in Wort und ersichtlicher wie vernehmbarer Tat – woran es den meisten seiner Volksvertreter aufgrund realpolitischer, von Rom bestimmter Fakten und Maßnahmen zwangsläufig, zum Teil aber auch aus einer gewissen Selbstfesselung mangelte – gegen die römische Verfälschung jenes Gruber-DeGasperi-Abkommens, worin den Südtirolern die Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten in Form einer statuarisch festgelegten Landesautonomie zugestanden worden war.
Hatten die BAS-Akteure zunächst noch die Hoffnung, dass sich nach der machtvollen Demonstration von 30.000 Südtirolern auf Schloss Sigmundskron 1957 und mehrmaligen Vorstößen Wiens – so der Intervention des damaligen Außenministers Bruno Kreisky vor den Vereinten Nationen zugunsten der Südtiroler 1960/61 – die starre Haltung Roms ändern könnte, so sahen sie sich alsbald getäuscht. Die Geduld wich daher zugunsten der Tat der idealistischen Kämpfer des BAS. Ihr „großer Schlag“, das Sprengen von annähernd 40 Strommasten in der sogenannten „Feuernacht“ (11. auf 12. Juni 1961) – allein Sepp Mitterhofer und seine Kleingruppe hatten deren zehn mit Zündern und Sprengstoff „geladen“ – wurde nicht nur im weiten Rund um Bozen sowie an Eisack und Etsch, sondern weit darüber hinaus gehört. Nicht zuletzt dieses Fanal der Verzweiflung gab – wider anderslautende Auffassungen, Deutungen und geschichtspolitische Interpretationen – den Anstoß für Verhandlungen der beteiligten Konfliktparteien, woraus schließlich das zwischen 1969 und 1972 staatsrechtlich inkraft gesetzte neue Autonomie-Statut hervorging, auf dessen Grundlage die heutige (gesellschafts)politische Verfasstheit Südtirols ruht.
Bis es soweit war, begleiteten zahlreiche Rückschläge den Verhandlungsprozess zwischen Wien sowie Bozen und Rom. Und die BAS-Aktivisten durchlitten ein von der italienischen Staatsgewalt legitimiertes Purgatorium, das wider die Menschenrechte verstieß und eines demokratischen Rechtsstaates gänzlich unwürdig war. Südtirol wurde in Belagerungszustand versetzt und von Sicherheitskräften förmlich überzogen, sodass mehr als 20.000 Soldaten, Carabinieri sowie Spezialisten der Geheimdienste den verhängten Ausnahmezustand zu gewährleisten und jede „feindliche Regung“ zu unterdrücken hatten. 150 Freiheitskämpfer des BAS wurden als „bombardieri“ beziehungsweise „terroristi“ inhaftiert, die meisten von Angehörigen einer Spezialeinheit gefoltert, denen Italiens Innenminister Mario Scelba die „Carta bianca“ für ihr barbarisches Tun erteilte.
Sepp Mitterhofer, der Obstbauer und Vater von vier Kindern aus Meran-Obermais, war unter den Gefolterten. In einem aus dem Gefängnis geschmuggelten, an Landeshauptmann Silvius Magnago gerichteten Brief hat er das Unfassbare geschildert, das er erleben musste. Einige Auszüge: „Im Ganzen musste ich zwei Tage und drei Nächte strammstehen ohne etwas zu Essen, Trinken und zu Schlafen. […] Mit Fußtritten wurde ich an den Füßen und am Hintern bearbeitet und auf den Zehen herumgetreten. [….] Am meisten geschlagen wurde mir ins Gesicht, dass ich so verschwollen wurde, dass ich später nicht mehr den Mund aufbrachte zum Essen. Die Arme wurden mir am Rücken hochgerissen, dass ich laut aufschrie vor Schmerz. Einmal musste ich mich halbnackt ausziehen, dann wurde ich so lange mit Fausthieben bearbeitet bis ich bewusstlos zusammenbrach. […. ] Öfters musste ich stundenlang vor brennende Scheinwerfer stehen und hineinschauen bis mir der Schweiß herunter rann und die Augen furchtbar schmerzten. Man zog mich an den Ohren und riss mir Haare büschelweiße vom Kopf. [… ] Der Rücken musste glatt an der Mauer angehen, kaum, dass ich mich rührte oder mit den Zehenspitzen etwas herausrutschte, so schlug mich ein Carabiniere der vor mir stand, mit dem Gewehrkolben auf die Zehen oder auf den Körper.“
Eine Reaktion von Seiten des Adressaten blieb aus.
Wie anderen BAS-Aktivisten wurde auch Mitterhofer in Mailand der Prozess gemacht. Das Urteil lautete auf zwölf Jahre Gefängnis. Die Verurteilten wurden auf verschiedene Haftanstalten verteilt. BAS-Gründer Kerschbaumer verstarb während des Strafvollzugs in Verona. Seine und Mitterhofers Mitstreiter Franz Höfler (aus Lana) und Anton Gostner (aus St. Andrä bei Brixen), Vater von fünf Kindern, ließen ihr Leben in unmittelbarer Folge von Folter-Torturen in Kasernen von Meran beziehungsweise Brixen und Bozen. Es erscheint mir eine denkwürdige Koinzidenz – wenn nicht eine metaphysisch-überirdische Fügung – zu sein, dass Sepp Mitterhofer just in den Stunden verstarb, da man Höflers vor 60 Jahren erlittenen Foltertods in Südtirol gedachte.
Nach sieben Jahren und elf Monaten Gefängnisaufenthalts war Mitterhofer entlassen worden. Folter und Haft hatten ihn ebensowenig brechen können wie ihn die davongetragenen gesundheitlichen Schäden und lebenslangen Beeinträchtigungen nicht verbitterten. Im Gegenteil: Er setzte sich erfolgreich für die ehemaligen politischen Häftlinge ein. Mit Beistand namhafter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens konnte dank unermüdlichen Einsatzes die Löschung der Hypotheken des italienischen Staates, welche auf dem Besitz ehemaliger politischer Häftlinge lasteten, und deren Wiedererlangung der bürgerlichen Rechte erreicht werden. Sepp Mitterhofer führte auch unerschütterlich den Kampf für Freiheit und Einheit Tirols mit politischen Mitteln weiter und übernahm den Vorsitz im Südtiroler Heimatbund (SHB), an dessen Gründung er zusammen mit anderen ehemaligen politischen Häftlingen beteiligt gewesen war.
Ziel des SHB ist „die Durchsetzung des seit 1919 verwehrten Selbstbestimmungsrechts, das die Entscheidung über die Wiedervereinigung des geteilten Tirol bis zur Salurner Klause zum Gegenstand hat. Die angestrebte Wiedervereinigung soll entweder durch einen einzigen Volksentscheid oder durch schrittweisen Vollzug verwirklicht werden.“ Der „politische Arm“ des SHB, die oppositionelle Bewegung SÜD-TIROLER FREIHEIT, deren Mitgründer er war, vertritt dieses Ziel im Südtiroler Landtag und in allen öffentlichen Auftritten gemäß Sepp Mitterhofers Credo, wonach „Süd-Tirol nicht Italien“ ist und dass allein das ursprüngliche Ziel „Los von Rom“ das 1919 gesetzte historische Unrecht auslöschen könne.
Diesem großen Sohn Tirols ist weder von den Institutionen der beiden Landesteile in Bozen und Innsbruck, noch von denen Österreichs, dessen politische Repräsentanten in Sonntagsreden Südtirol stets „eine Herzensangelegenheit“ nennen, jemals eine formelle Würdigung für seinen heimattreuen Lebenseinsatz zuteil geworden. Auch blieb ihm – aus politischer Rückgratlosigkeit und weil das meist „ausgezeichnet“ genannte österreichisch-italienische Verhältnis nicht getrübt werden sollte – ein offizieller Ehrerweis versagt. Dies nenne ich eine erbärmliche Schande. REYNKE DE VOS
Ein Reisebus verlässt Innsbruck. Die Insassen begeben sich auf „Exkursion“ nach Verona. „Pro arte et musica“ heißt ihr Programm, auf das sie Günther Andergassen, Hochschullehrer am Salzburger Mozarteum, mitnimmt. Doch sie sind keine gewöhnlichen Ausflügler, ihre Fahrt am 10. Juni 1961 dient der Tarnung. Auch Herlinde Molling, die an diesem Tag ihr Sport-Coupé mit dem Münchner Kennzeichen M-LE 333 gen Süden chauffiert, um in Vilpian, einem Ort zwischen Bozen und Meran, auf ihren Mann Klaudius zu treffen, der zu besagter Reisegruppe gehört, ist nicht wirklich zum Vergnügen unterwegs. Im Kofferraum transportiert sie Sprengstoff. Sprengstoff führen auch die „Exkursionsteilnehmer“ in Rucksäcken mit sich. Auf Almhütten, Waldlichtungen, selbst in einem Gasthof mitten in Bozen trifft man sich mit Landsleuten aus dem südlichen Teil Tirols und übergibt ihnen die portionierten „Mitbringsel“.
Donarit und Zeitzünder
Am Spätabend des 11. Juni verlässt Luis Steinegger seinen Hof und fasst oberhalb von Tramin das dort in einer Höhle verwahrte Donarit, welches einer der Exkursionsteilnehmer überbracht hat. Mit seinem Freund Oswald Kofler präpariert er zwei Strommasten in Altenburg. Sie befestigen den Sprengstoff, legen die Zündschnur lose um die Stahlträger. Dann wird der Zeitzünder, Marke Eigenbau, scharf gemacht. Die Uhr der Dorfkirche schlägt zehn Mal, als Steinegger den Zünder auf eins stellt. Pünktlich um ein Uhr detonieren die Ladungen, die Strommasten krachen in sich zusammen. Dasselbe in Sinich nahe Meran, wo Sepp Innerhofer von Schenna aus mit dem Feldstecher beobachtet, wie die von ihm „geladenen“ Masten unter widerhallendem Getöse wie Streichhölzer umknicken. Auch in Bozen durchbricht um dieselbe Zeit ein lauter Knall die nächtliche Ruhe. Das donnergleiche Grollen, dem weitere Detonationen folgen, reißt viele aus dem Schlaf. Zwischen eins und halb vier blitzt und knallt es rund um den Bozner Talkessel, krachen stählerne Ungetüme zu Boden. (Zeitzeugenberichte aus dem 2011 im Innsbrucker Tyrolia-Verlag erschienenen Buch „Südtirol 1961, Herz Jesu-Feuernacht …“ von Birgit Mosser-Schuöcker und Gerhard Jelinek)
Ausnahmezustand, Haft, Folter, Tod
Am Morgen des 12. Juni, des „Herz-Jesu-Sonntags“, wird das Ausmaß dessen ersichtlich, was die „Feuernacht“ bewirkte: 37 Hochspannungsmasten, acht Eisenbahnmasten und zwei zu Kraftwerken führende Hochdruckwasserleitungen sind in die Luft geflogen: Eine effektvolle konspirative Gemeinschaftsaktion des „Befreiungsausschusses Süd-Tirol“ (BAS) mit dem Ziel der größtmöglichen Schädigung Italiens unter Schonung von Menschen und Privateigentum. Die Weltöffentlichkeit soll auf das Südtirol-Problem aufmerksam gemacht und auf die als Besatzungsregime empfundene italienische Staatsmacht Druck ausgeübt werden. Dem BAS gehören etwa 200 Aktivisten aus beiden Teilen Tirols an: „Wir fordern für Südtirol das Selbstbestimmungsrecht! (…) Europa und die Welt werden unseren Notschrei hören und erkennen, dass der Freiheitskampf der Südtiroler ein Kampf (…) gegen die Tyrannei ist.“ Doch ihr Aufruf zum Kampf erfährt erst breitere Unterstützung, als die Bevölkerung die Reaktion Roms auf die Feuernacht direkt verspürt: es verhängt den Ausnahmezustand über die Provinz, das gesamte IV. Armeekorps – 24 000 Soldaten – sowie zusätzlich 10 000 Carabinieri – kasernierte Polizeikräfte – werden nach Südtirol verlegt. Bis Ende Juli werden die meisten Südtiroler BAS-Mitglieder inhaftiert, darunter auch Sepp Kerschbaumer, ihr Kopf. Seine Mitstreiter Franz Höfler und Anton Gostner erliegen grausamen Folterungen in der Carabinieri-Kaserne von Eppan. Jetzt erst kommt es zu einer Welle der tätigen Solidarität. Auch von politischer Seite in Österreich.
Was treibt die „Bumser“ an, wie die Attentäter noch heute im Volksmund genannt werden? Sie wollen ein markantes Zeichen setzen, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf das ungebrochene neokolonialistische Gebaren Roms zu lenken. Der südliche Landesteil Tirols ist Italiens Kriegsbeute, Belohnung dafür, dass es aus dem Dreibund (mit Deutschem Reich und Österreich-Ungarn) zu Beginn des Ersten Weltkriegs ausschert, sich anfangs als „Neutraler“ geriert, um 1915 auf der Seite der Entente-Mächte England und Frankreich als Verbündeter in den Krieg eintritt. Vor dem Untergang der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie war es – wie „Welschtirol“ (Trentino) für fünf Jahrhunderte Teil der „gefürsteten Grafschaft Tirol“ und also Habsburger-Kronland. Nach dem Friedensdiktat von Saint-Germain-en-Laye (10. September 1919) gliedert das Königreich Italien am 10. Oktober 1920 das Land bis zum Brenner ein. Mit der Machtübernahme Mussolinis 1922 soll das „Alto Adige“ („Hochetsch“) entdeutscht und kulturell italianisiert werden. Das römische Verwaltungssystem wird eingeführt, die italienische Sprache zur alleinigen Amts- und Unterrichtssprache erklärt. Infolge gezielter Ansiedlung von Unternehmen und Beschäftigten aus Altitalien verdreifacht sich bis 1939 die Zahl ethnischer Italiener in Südtirol. Schließlich verabreden die Diktatoren Mussolini und Hitler, „Achsenpartner“ im bald darauf entfesselten Krieg, das sogenannte Optionsabkommen: damit zwingen sie die Südtiroler, sich entweder für „das Reich“ zu entscheiden und die Heimat zu verlassen, oder zu bleiben und in der Italianità aufzugehen.
Die verfälschte Autonomie
Nach dem Zweiten Weltkrieg verwerfen die Alliierten die Rückgliederung Südtirols an Tirol und das wieder erstandene Österreich, wie es mehr als 175 000 im Geheimen gesammelte und in Innsbruck an Kanzler Leopold Figl übergebene Unterschriften fordern. Zwar gesteht ein zwischen Außenministern Karl Gruber und dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide de Gasperi im September 1946 zu Paris geschlossenes Abkommen den Bewohnern der Provinz Bozen weitgehende sprachliche und kulturelle Rechte sowie eine gewisse Selbstverwaltung zu. Doch Rom führt diese Übereinkunft im ersten Autonomiestatut von 1948 dadurch ad absurdum, dass es seine Gültigkeit für die Region Trentino-Alto Adige festlegt, worin die beiden Nachbarprovinzen zusammengeschlossen und die Südtiroler von der Dominanz der ethnischen Italiener des Trentino majorisiert sind. Dagegen und gegen die auch vom demokratischen Italien quasi in Kolonialherrschaftsmanier bruchlos fortgesetzte Ansiedlung von Süditalienern – in neuerlichen Wohnbau- und Industrieprojekten – wenden sie sich in der vom nachmals legendären Landeshauptmann Silvius Magnago initiierten „Los von Trient“-Bewegung. Die 1950er und 1960er Jahre sind daher vom Aufbegehren gegen die römische Politik erfüllt. Vorläufer des BAS ist die „Gruppe Stieler“; auch sie hält sich strikt an das Gebot „Gewalt lediglich gegen Sachen“.
Gleichwohl kommt es am Tag nach „Feuernacht“ durch unglückliche Umstände zum ersten Opfer; ein italienischer Straßenwärter entdeckt nahe (der Provinz- und Sprachgrenze an der Landenge von) Salurn an einem mächtigen Baum einen nicht detonierten Sprengsatz, mit dem der Baum gefällt und die Straßenverbindung gen Trient sinnfällig-zeichensetzend unterbrochen werden sollte, der ihn während seines Entfernungsversuchs tötet. Infolge späterer Anschläge sind – auf beiden Seiten – insgesamt 25 Todesopfer zu beklagen. Jüngere Forschungen haben indes gezeigt, dass davon nicht wenige auf das Konto konspirativer Anschläge unter maßgeblicher Beteiligung italienischer Geheimdienstleute sowie des italienischen Zweigs „Gladio“ der verdeckt operierenden Nato-Geheimorganisation „Stay behind“ gehen.
150 BAS-Aktivisten wird man habhaft, einige können entkommen und setzen ihre Aktivitäten von Nord- und Osttirol aus fort. Im Mailänder Sprengstoffprozess 1963 gegen 94 Angeklagte (87 aus Südtirol, 6 aus Österreich, einer aus der Bundesrepublik) werden zumeist langjährige Haftstrafen ausgesprochen. Ein halbes Jahr später stirbt Sepp Kerschbaumer in einem Veroneser Gefängnis; 15.000 Südtiroler folgen seinem Sarg.
Viel ist seit jener „Feuernacht“ in Südtirol geschehen. Aufgrund zweier Deklarationen der Vereinten Nationen (UN), vor die der damalige österreichische Außenminister Bruno Kreisky den Südtirol-Konflikt trägt, wird in zähen Verhandlungen zwischen Rom, Bozen und Wien schließlich eine Lösung in Form eines neuen Autonomiestatuts gefunden, der die seit 1945 im Lande dominante Südtiroler Volkspartei (SVP) 1969 mit knapper Mehrheit zustimmt. Verbunden mit „Paketmaßnahmen“ und „Durchführungsbestimmungen“, deren Verwirklichung sich aufgrund römischer Finten immer wieder verzögert, wird der Konflikt mit der von der Schutzmacht Österreich vor den UN abgegebenen „Streitbeilegungserklärung“ gegenüber Italien erst 1992 völkerrechtlich beigelegt. Heute gehört die Provincia autonoma di Bolzano – Alto Adige Autonome Provinz Bozen-Südtirol zu den prosperierenden Gebieten Italiens und darüber hinaus, weshalb diejenigen, die mit den obwaltenden Verhältnissen, in denen sie sich mehr oder weniger komfortabel einrichteten, zufrieden sind und sie, wie allem Anschein nach die heutige Führung der nach wie vor regierenden Mehrheitspartei SVP – und mit ihr alle Parlamentsparteien des „Vaterlands Österreich“ außer der oppositionellen FPÖ – quasi als politischen und rechtlichen Endzustand erachten sowie als „Vorbild für die friedliche Beilegung von Minderheitenkonflikten“ propagieren. Alle anderen Südtiroler deutscher und ladinischer Zunge, die deutschsüdtiroler Opposition ohnedies, die austro-patriotischen Vereinigungen wie Heimatbund (SHB) und Schützen (SSB), aber auch diejenigen wenigen in der SVP, die die Autonomie nicht als „Endstadium“, sondern lediglich als Zwischenschritt auf dem völkerrechtlich möglichen und menschenrechtlich gebotenen Weg zur Selbstbestimmung betrachten, welche 1919 und 1946 verweigert wurde, setzen sich nach wie vor für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ein.
Kein „Ende der Geschichte“
Ist der „Feuernacht“ eine politische Bedeutung und zukunftsgestalterische Wirkkraft eigen? Stets lehnten Magnago und die engere SVP-Führung Anschläge als prinzipiell verwerfliche Taten ab. Ebenso wie österreichische Politiker aus der Erlebnisgeneration bestritten sie, von deren Vorbereitung gewusst oder mit den Aktivisten zu tun gehabt oder gar zusammengewirkt zu haben. Das darf jedoch in dieser Pauschalität füglich bezweifelt werden, weil wir heute wissen, dass und welche Persönlichkeiten in Nordtirol, in anderen österreichischen Bundesländern, auch im benachbarten Bayern sowie in der damaligen Bonner Politikerriege und selbstredend auch in Südtirol hinter ihnen standen, ihr Tun wenn nicht ausdrücklich guthießen so doch mit Sympathie – und vereinzelt sogar über das Ideelle hinaus – begleiteten. Später hieß es dann, die Anschläge seien als „Anstoß für die Änderung der italienischen Südtirolpolitik“ zu sehen, an deren Ende die „Paket-Lösung“ von 1969 und das Zweite Autonomiestatut von 1972 standen. Das sei letztlich jenen zu verdanken (gewesen), die mit dem Einsatz ihres Lebens wesentlich dazu beitrugen, die Heimat vor Italiens ins Werk gesetztem fait accompli, nämlich einebnende, entnationaliserende Assimilierung, zu bewahren. Magnago äußert einmal, die Anschläge hätten „einen bedeutenden Beitrag zum Erzielen einer besseren Autonomie für Südtirol“ geleistet.
Doch Autonomie als Zustand und Wert an und für sich, wie sie Magnagos politische Enkel innerhalb und außerhalb seiner SVP geradezu verabsolutieren, weil es ihrem wohlgefälligen Mehren selbstbetrügerischen Zufriedenheitsempfindens frommt und das kompromisslerische Arrangement mit Rom sowie die schleichende Italophilie begünstigt, oder gewissermaßen gar als eine Art „Ende der Geschichte“ betrachten, wie nicht wenige Angehörige der politischen Klasse Österreichs – all ihren Sonntagsreden von der „Herzensangelegenheit Südtirol“ zum Trotz – wollten just die Freiheitskämpfer nicht. Weder jene, derer die italienische Staatsmacht 1961 und in den Jahren danach habhaft wurde, sie als „Terroristen“ verurteilte und manche sogar zu Tode schund; noch die damals Entwischten und in Abwesenheit menschenrechtswidrig zu lebenslänglicher oder mehrjähriger Haft Verurteilten und die seitdem ihre Heimat nicht mehr gesehen haben. Und schon gar nicht all jene, die sich ihnen und ihren Zielen auch heute und in Zukunft weiter verbunden und diesseits wie jenseits des Brenners durchweg ihrem Erbe verpflichtet fühlen.
Selbstbestimmtes „Los von Rom“
Ihr Ziel war und bleibt die Selbstbestimmung, das ideelle, materielle, politisch-rechtliche „Los von Rom“. Zu welchem Behufe und in welcher völker- oder staatsrechtlich geregelten Form, ob als nurmehr absolut lose mit Italien verbundenes, über Kulturhoheit, Jurisdiktion und Polizeigewalt verfügendes autonomes Territorium mit weitestgehendem Eigenstaatlichkeitscharakter, ob als von Österreich und Italien gemeinsam verwaltetes Kondominium mit Eigenrecht, ob als gänzlich unabhängiger souveräner Kleinstaat, ob als zehntes Bundesland Österreichs oder ob mit dem Bundesland Tirol und also Österreich wiedervereint, ist und bleibt offen. Klar muss allerdings sein, dass über das südliche Tirol und dessen Zukunft allein diejenigen zu befinden haben, die weder 1918/19 noch 1945/46 gefragt, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt worden sind, nämlich die Südtiroler deutscher und ladinischer Zunge – und zwar in freier, gleicher und geheimer Ausübung ihres unverbrüchlichen Rechts auf Selbstbestimmung.
Wie Staaten usurpierte Völker zu entnationalisieren trachten, zeigt das Beispiel Italien-Südtirol
Alpini als Besatzer und Unterdrücker Foto: Archiv Golowitsch
„Um Völker auszulöschen, beginnt man damit, sie ihrer Erinnerung zu berauben. Man zerstört ihre Bücher, ihre Kultur, ihre Geschichte, ihre Symbole, ihre Fahne. Andere schreiben dann ihre Bücher, geben ihnen eine andere Kultur, erfinden für sie eine andereGeschichte und zwingen ihnen andere Symbole und eine andere Fahne auf. Danach beginnt das Volk zu vergessen, wer es gewesen ist, wenn nicht die geschichtliche Erinnerung von neuem geweckt wird.“
Als Gabriele Marzocco, der verstorbene wortmächtige Historiker und publizistische Streiter für die Wahrung ethnischer Identitäten zu dieser Feststellung gelangte, hatte er gewiss nicht allein seine neapolitanischen Mitbürger im Blick gehabt, für deren volkliche Eigenarten und Eigenständigkeit er sich in der von ihm gegründeten Zeitschrift „Nazione Napoletana“ vehement einsetzte. Selbstverständlich war ihm auch das Schicksal derer vertraut, die sich Italien insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg einverleibte und – ganz gleich, ob in Rom faschistische Schwarzhemden oder demokratische Weißhemden bestimmten – seiner rücksichtslosen Entnationalisierungspolitik mit dem Ziel der „ewigen Italianità“ unterzog.
Markantestes Beispiel dafür ist der südliche Landesteil Tirols, den es 1918 besetzte, wegen seines 1915 vollzogenen Seitenwechsels im schändlichen „Friedensvertrag“ von Saint- Germain-en-Laye 1919 als Kriegsbeute zugesprochen bekam und 1920 auch förmlich annektierte. Das faschistische Italien suchte dann ab Oktober 1922 alles auszumerzen, was zwischen Brenner und Salurn auch nur im Entferntesten an die in Jahrhunderten entstandene deutsch-österreichische kulturelle Prägung erinnerte. Denn wer dem eigenen fremdes Territorium einverleibt, muss der angestammten Bevölkerung die Identität rauben, soll die Annexion Bestand haben.
Der Entnationalisierung sind die zugefügten immateriellen Schäden auf Dauer besonders förderlich, wenn zuvorderst die Umbenennung von Namen, die an Orten, Plätzen, Siedlungen, Wegen, Bächen, Flüssen und Bergen haften, angeordnet und – bis hin zu Vor- und Familiennamen, selbst auf Grabstätten – unerbittlich durchgesetzt wird. Seit der Machtübernahme Mussolinis war Südtirol Exerzierfeld römischer „Umvolkungspolitiker“. Unter seinem Getreuen Ettore Tolomei, der dies an der Spitze einer Gruppe fanatischer geistiger Eroberer von Bozen aus ins Werk setzte, wurde bis zum zweiten Seitenwechsel
Italiens 1943 das gesamte Namensgut des „Alto Adige“ („Hoch-Etsch“) italianisiert. Mit den willkürlich gebildeten identitätsverfälschenden Namen sollte der fremdgeprägte Kulturraum nicht etwa nur geistig Italien unterworfen werden, sondern nach außen hin wurde der sprachliche Vergewaltigungsakt als „Re-Italianisierung“ ausgegeben.
Mitteilung der Zeitung „Der Landsmann“ (zuvor „Der Tiroler“) vom 24. Oktober 1925 über den zwingend vorgeschriebenen Gebrauch der italienischen Ortsnamens-Erfindungen. Foto: Archiv Golowitsch
Dafür musste, neben dem prinzipiellen Verbot der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit, in Ämtern, auf Behörden, in Zeitungen, Zeitschriften und sonstigen Publikationen, vor allem das Schulwesen herhalten, wo der faschistisch-brachiale Umerziehungsfuror am rigorosesten wütete. Die von einer Autorengruppe unter Ägide des vom Verein Südtiroler Geschichte zusammengestellte und in einem im effekt!-Verlag (Neumarkt/Etsch) unlängst als Buch erschienene Dokumentation, veranschaulicht dies, versehen mit aussagestarken authentischen Beispielen, die auch für Gegenwart und Zukunft Mahnung sind, auf prägnante Weise. Im Buchtitel „Die Deutschen brauchen keine Schulen“ steckt der Hauptteil einer bereits ein Jahr nach der Einverleibung Südtirols in den italienischen Staatsverband vom damaligen
italienischen Vizepräfekten der Provinz Bozen, Giuseppe Bolis, getätigten symptomatischen Äußerung, die gleichsam als Richtlinie für das faschistische Erziehungswesens galt: „Die Deutschen brauchen keine Schulen, und wir brauchen auch keine Deutschen“.
Als sich alle kolonialistischen Zwangsmaßnahmen, die Bevölkerung des „Hochetsch“ („Alto Adige“, gemäß damals verordneter, alleingültiger Benennung) zu assimilieren, als fruchtlos erwiesen, zwangen die „Achsenpartner“ Mussolini und Hitler die Südtiroler in einem perfiden Abkommen, entweder für das Reich zu optieren und über den Brenner zu gehen oder bei Verbleib in ihrer Heimat schutzlos der gänzlichen Italianità anheim zu fallen. Obschon die meisten für Deutschland optierten, verhinderte der Zweite Weltkrieg die kollektive Umsiedlung. 1946 lehnten die Alliierten die Forderung nach einer Volksabstimmung in Südtirol ab. Woraufhin sich in Paris die Außenminister Österreichs und Italiens auf eine Übereinkunft verständigten, von welcher Bozen, Innsbruck und Wien die verbriefte Gewähr für die autonome Selbstverwaltung des Gebiets sowie den Erhalt der Tirolität seiner Bevölkerung gesichert wissen glaubten.
Doch Alcide DeGasperi bog die im Abkommen mit Karl Gruber vom 5. September 1946 gegebenen Zusagen so um, dass die versprochene Autonomie nicht speziell für die Provinz Bozen, sondern für die Region Trentino-Alto Adige galt, in die beide Provinzen verbunden wurden. Das schiere Übergewicht des italienischen Bevölkerungselements bewirkte zwangsläufig die Majorisierung des deutsch-österreichischen sowie des ladinischen Tiroler Volksteils und führte die für Bozen eigenständig auszuüben versprochene politisch- administrative und kulturelle Selbstverwaltung ad absurdum.
Das Niederhalten der Südtiroler – dokumentiert anhand bislang unveröffentlichter Zeugenberichte
Schon als sich die Niederlage NS-Deutschlands in Umrissen abgezeichnet hatte, setzten im Gebiet der „Operationszone Alpenvorland“, zu der das südliche Tirol nach Absetzung Mussolinis und Seitenwechsels Italiens 1943 gehörte, italienische Partisanen aus dem „befreiten Italien“ alles daran, Fakten zu schaffen, welche von vornherein für die Zeit nach Kriegsende den Verbleib Südtirols im Stiefelstaat gewährleisten sollten. Es ist das bleibende Verdienst des Historikers Helmut Golowitsch, anhand einer Fülle archivierten Materials in seinem soeben erschienenen Buch „Repression. Wie Südtirol 1945/46 wieder unter das Joch gezwungen wurde“ (Neumarkt/Etsch, Effekt! Verlag 2020, ISBN-9788897053682) eindrücklich und mustergültig dokumentiert zu haben, wie diese Insurgenten operierten, um die Südtirol-Frage auf ihre Art und Weise ein für alle Mal zugunsten des abermaligen Kriegsgewinnlers Italien zu beantworten.
Bislang unbekannte Berichte betroffener Terror-Opfer, welche damals von Pfarrämtern und SVP-Ortsgruppen protokolliert und als Originale oder Kopien auf gefährlichen Wegen über die Berge nach Nordtirol gebracht worden waren. Foto: Archiv Golowitsch
Man fragt sich, warum diese zum einen im Bozner, zum andern im Innsbrucker Landesarchiv sowie nicht zuletzt im Österreichischen Staatsarchiv zu Wien frei zugänglichen Sammlungen authentischer Berichte aus dem während des faktischen „Interregnums“ von massiven Repressalien überzogenen südlichen Landesteil Tirols sich unbesehen in dunklen Archivmagazinen befanden, bis sie der Publizist ans Licht hob, minutiös aufbereitete und 75 Jahre nach Kriegsende der (zumindest interessierten) Öffentlichkeit jetzt präsentiert. Und kann sich eigentlich nur eine naheliegenden Antwort geben, nämlich dass die herkömmliche (und zumindest in Teilen ideologisch dogmatisierende universitäre) Zeitgeschichtsforschung zum Südtirol-Konflikt dieses authentischen Quellenmaterial ignorierte, weil dessen bestürzender Inhalt der in der Zunft dominanten zeitgeistigen politisch-korrekten „Opinio comunis“, insbesondere hinsichtlich einer quasi kanonisierten Betrachtungen über „bella Italia“, zuwiderläuft.
Wie stellt sich nun das Ergebnis der Kärrnerarbeit Golowitschs für uns Nachgeborene dar, und welche gewinnbringende Erkenntnis vermögen wir daraus zu ziehen? Gegen Kriegsende keimte in Südtirol die Hoffnung auf Wiederangliederung an Nord- und Osttirol und damit auf Rückkehr zu Österreich. Alle Kundgebungen, auf denen diesem Wunsch Ausdruck gegeben werden sollten, liefen den Interessen der westlichen Siegermächte zuwider, die, den niedergehenden „Eisernen Vorhang“ und den auf Stalins rigider Machtpolitik zur Absicherung des Moskowiter Vorhofs dräuenden Ost-West-Konflikt vor Augen, Italien, wo zudem die KPI zusehends an Anhängerschaft gewann, in ein Bündnis einbauen wollten, weshalb insbesondere Washington die römische Politik tatkräftig unterstützte. Mithin unterlagen in Südtirol alle Bemühungen, dem Wiedervereinigungsverlangen öffentlich Stimme und Gewicht zu verleihen, den vom amerikanischen Militär angeordneten Kundgebungsverboten. Überdies wurden alle Versuche, die zum Ziel hatten, weithin vernehmlich einzutreten für die Selbstbestimmung und für das Recht, sie zu ermöglichen, durch behördlich geduldete Terroraktionen gegen die Bevölkerung unterbunden.
Terror durch „Nachkriegspartisanen“ und uniformierte Plünderer
An massiven Übergriffen auf Proponenten von Selbstbestimmung und Rückgliederung sowie gegen die prinzipiell zu Nazis gestempelten deutsch- österreichischen und ladinischen Bevölkerungsteile Südtirols waren neben marodierenden und gleichsam in Banden umherziehenden Trägern italienischer Uniformen vor allem auch Angehörige des sich „antifaschistisch“ gebenden italienischen Befreiungsausschusses CLN (Comitato di Liberazione Nazionale) beteiligt. In dessen „Resistenza“-Formation reihten sich vormalige Faschisten ein, die rasch die Montur, aber nicht die Stoßrichtung gewechselt hatten, nämlich die beschleunigte Fortführung der Unterwanderung mit dem Ziel der unauslöschlichen Verwandlung Südtirols in einen in jeder Hinsicht rein italienischen Landstrich.
Italienische Bewaffnete zu Kriegsende – unter ihnen zahlreiche „Nachkriegspartisanen“
Im Mittelpunkt der Publikation Golowitschs stehen daher die gegen Personen(gruppen) und Sachen verübten Gewalttaten sowie die im südlichen Tirol zwischen (den Wirren und der eher unübersichtlichen Lage bis zum) Kriegsende 1945 und der Entscheidung der alliierten Außenminister vom 1. Mai 1946, die Forderung Österreichs nach Rückgliederung Südtirols abzuweisen, insgesamt obwaltende Repression. „Nachkriegspartisanen“ sowie Gewalttäter aus den Reihen des die amerikanischen Besatzungstruppen ablösenden italienischen Militärs, wie etwa der „Kampfgruppe Folgore“ und der „Kampfgruppe Friuli“, bedrohten die deutsche und ladinische Bevölkerung, plünderten, raubten, mordeten ungesühnt und hielten damit die aus persönlichem Erleben wie kollektiver Erfahrung seit 1918 eher verängstigte Südtiroler Bevölkerung nieder.
Soldaten der Kampfgruppe „Folgore“ ( „Blitz“) Fotos: Archiv Golowitsch
Mit sozusagen von oben begünstigtem, weil staatlich gebilligtem Terror konntedaher im „demokratischen Italien“ die nahezu bruchlose Fortführung derfaschistischen Politik einhergehen.
Es gab eine Reihe Südtiroler Mordopfer. Die an ihnen begangenen Untaten wurden nie gesühnt. Foto: Archiv Golowitsch
Die Refaschisierung des Landes
Frühere Faschisten wurden weithin in ihre vormals bekleideten Ämter und Funktionen wiedereingesetzt, sodass sich im öffentlichen Leben allmählich eine faktische Refaschisierung einstellte. Golowitschs Dokumentation fördert klar zutage, wie eben just ab 1945 die römische Zwischenkriegspolitik des Ethnozids im neuen, aber kaum anders gestrickten Gewande fortgesetzt wurde. Deren Bestimmung war es, durch staatlich geförderte Zuwanderung aus dem Süden Italiens die zuvor von Mussolini und seinen Getreuen bis an die „Grenze des Vaterlandes“, wie es das geschichtsfäl-schende faschistische „Siegesdenkmal“ in Bozen propagiert, ins Werk gesetzte Auslöschung der deutschen und ladinischen Teile des Tiroler Volkskörpers zu vollenden und das Land an Eisack und Etsch gänzlich der Italianità anzuverwandeln.
Um nur eines von vielen markanten Beispielen aus der Fülle der in der Dokumentation ausgebreiteten zeitgenössischen Zeugnisse zu nennen, sei hier jener aufschlussreiche Vermerk vom September 1945 erwähnt, worin es heißt, die am 8. Mai 1945 gegründete (und bis heute im Lande dominante) Südtiroler Volkspartei (SVP) habe wöchentlich mehrere Überfälle, Diebstähle, Raub, Plünderung und Mord bezeugende Tatberichte erhalten. Der „Volksbote“, das SVP-Parteiorgan, meldete am 21. März 1946, in einer einzigen Eingabe an die zuständigen Behörden seien 60 teils blutige, teils unblutige Überfälle aufgezählt gewesen.
Sich duckende politische Führung – der Klerus auf Seiten des Volkes
Zu denen, die derartige Geschehnisse ereignis- und ablaufgetreu wiedergaben sowie nicht selten selbst schriftlich festhielten, in Berichtsform abfassten und an sichere Gewährsleute übergaben, die sie nach Innsbruck brachten, gehörten in vielen Fällen katholische Geistliche.
Nahezu alle Ortspfarrer Südtirols sammelten und unterschrieben Petitionen, in denen dieWiedervereinigung Tirols und die Rückkehr zu Österreich gefordert wurde. Fotos: Archiv Golowtisch
Indes fördert Golowitschs Publikation auch von Ängstlichkeit, Unterwerfung und Arrangement hervorgerufene Leisetreterei zutage, die sich nicht anders denn alspolitisches Fehlverhalten charakterisieren lässt. So fürchteten Parteigründer und erster SVP-Obmann Erich Amonn und sein Parteisekretär Josef Raffeiner eigenerAussage zufolge für den Fall, dass sie die ihnen aus Ortsgruppen ihrer Partei zugegangenen Tatberichte öffentlich gemacht hätten, Anklage und Verurteilung wegen des strafbewehrten Delikts „Schmähung der italienischen Nation und der bewaffneten Streitkräfte“ aus dem trotz Regimewechsels nach wie vor in Kraft befindlichen faschistischen „Codice Penale“. Weshalb Sie die Berichte zwar verwahrten, aber verschwiegen. Selbst Vertreter der alliierten Siegermächte, die ja der Form nach die eigentliche Gewalt im Lande hätten innehaben und ausüben müssen, wozu gehört hätte, die offenkundigen italienischen Umtriebe zu unterbinden, setzten sie nur mündlich davon in Kenntnis und konnten allenfalls ein Achselzucken erwarten.
Dasselbe gilt, wie Golowitsch darlegt, auch für Politiker der unter Viermächte-Statut deralliierten Besatzer stehenden und zwischen 27. April und 20. Dezember 1945 gebildeten Provisorischen Regierung zu Wien, der, unter Leitung des sozialistischen Staatskanzlers Karl Renner zu gleichen Teilen Vertreter von ÖVP, SPÖ und KPÖ angehörten. Und ganz besonders gilt es für die aus der ersten Nationalratswahl (25.11.1945) hervorgegangene und vom 20. 12. 1945 bis 8.11. 1949 amtierende Regierung unter ÖVP-Kanzler Leopold Figl mit sieben Ministern der ÖVP, fünf Ministern (ab 24.11.1947 deren sechs) der SPÖ und (bis 24.11.1947) einem von der KPÖ gestellten Minister.
Viele der Berichte über die Vorgänge in Südtirol gelangten im Original oder in Abschrift nach Nordtirol und von dort auch zur Kenntnis der in Wien Regierenden, zumal da der auf das Engste mit der Causa „Zukunft Südtirols“ vertraute Außenminister Karl Gruber (ÖVP) Tiroler (mit Wohnsitz in Innsbruck) war. In Wien machte man, auf die Wünsche vor allem der amerikanischen und britischen Besatzungsmächte Rücksicht nehmend, die ja mit den Kommandantura-Sowjets – als den misstrauischsten und sich stets als gegnerische Macht gebärdenden Besatzern – auskommen mussten, den Inhalt der Südtiroler Berichte nicht zugänglich, um öffentliche Sympathiebekundungen für die Südtiroler und eventuell damit verbundene Aufwallungen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Am 5. September 1946, wenige Monate nach Amtsantritt Figls, traf Gruber in Paris jene Vereinbarung mit DeGasperi, die für den von den Siegermächten bestimmten Verbleib Südtirols bei Italien und die damit eingeläutete Nachkriegsentwicklung maßgeblich sein sollte.
Fazit: Wer die dadurch und in den Folgejahren hervorgerufenen Enttäuschungen der Südtiroler ob ihrer neokolonialistischen Unterjochung durch Rom und ihre zunächst hilflose Wut bis hin zur auch gewaltbereiten und gewalttätigen Auflehnung idealistischer Aktivisten des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS) vom Ende der 1950er bis hin in die 1970er Jahre sozusagen von der Wurzel her begreifen will, kommt an Golowitschs höchst ansehnlicher und zutiefst beeindruckender Dokumentation nicht vorbei.
Seit der in mehreren Auflagen erschienenen grundlegenden Buchpublikation „Die Volksgruppen in Europa“ https://www.verlagoesterreich.at/die-volksgruppen-in-europa-pan/pfeil/videsott-978-3-7046-7224-7 für die drei namhafte Experten des in Bozen beheimateten Südtiroler Volksgruppen-Instituts verantwortlich zeichnen, wissen alle, die es wissen wollen, dass zwischen Atlantik und Ural 768 Millionen Menschen in 47 Staaten leben, wovon 107 Millionen – mithin jeder siebte Bewohner Europas – Angehörige von Minderheiten sind.
Südtiroler und Venetianer bekunden: Süd-Tirol und Veneto sind nicht Italien Foto: SHB
Bei diesen Minoritäten handelt es sich nicht um „moderne“ Erscheinungen wie Angehörige gesellschaftlicher oder sexueller Randgruppen, die heute aufgrund angenommener oder tatsächlich vorhandener Diversitätsmerkmale die politisch-publizistische Mainstream-Aufmerksamkeit genießen. Es handelt sich auch nicht um Minderheiten, die aufgrund von Anwerbung („Gastarbeiter“) oder Migration in ihre Wohnsitzländer gekommen sind und dort auf politische Anerkennung und rechtliche Fixierung eines beanspruchten Minderheitenstatus aus sind. Nein, es handelt sich um autochthone, historisch verwurzelte ethnische sowie sprachkulturell und/oder religiös von ihren eigentlichen nationalen Gemeinschaften getrennte und damit in fremdnationaler Umgebung, sohin unter den dortigen Staatsnationen, zu leben gezwungene Minderheiten, die oft auch als Volksgruppen bezeichnet werden.
Europa ist überaus reich an Völkern, Volksgruppen, Kulturen und Sprachen; sie sind sozusagen konstitutives Element des Kontinents. Dies gilt zuvorderst auch für die 27 (Noch-)Mitgliedstaaten von EUropa, in denen sich seit langem und immer wieder Minoritäten zu Wort melden, die nicht nur sprachlich-kulturelle und religiöse Eigenheiten, sondern ihre gesamte gesellschaftlich-rechtliche Existenz durch Maßnahmen ihrer „Wirtsnationen“ bedroht sehen, welche auf Akkulturation, Assimilation und in letzter Konsequenz auf Entnationalisierung respektive Homogenisierung ausgerichtet sind.
Zur Sicherung ihrer Existenz und zur Erhaltung ihrer (Eigen-)Art, somit ihrer nationalkulturellen/nationalreligiösen Identität, bedürfte es einer Ergänzung der in der Menschenrechtscharta sowie Verfassungen verbürgten Gleichberechtigung der Individuen durch das „Prinzip der Gleichberechtigung von Völkern und Ethnien“. Wenngleich damals rigorose Vertreter des aufwallenden Nationalismus larmoyant vom „Völkerkerker“ schwadronierten, kannte just das alte Österreich-Ungarn dieses Prinzip und verfuhr danach.
Fehlender Volksgruppenschutz
Für die heutigen Verhältnisse in EU-Staaten mit immer wieder auftretenden Nationalitätenkonflikten – ich nenne hier stellvertretend für viele andere nur Basken/Katalanen in Spanien bzw. Flamen/Wallonen in Belgien – wären Instrumente zur Verwirklichung gleichberechtigter „nationaler Partnerschaften“ aus Mehrheit(sstaatsvolk) und nationaler/nationalen Minderheit/en nicht nur geeignet, sondern geradezu eine Art „Befreiungsschlag“. Notwendig wären in der EU übernational geltende, kollektive Volksgruppen(schutz)rechte, mithin Rechtsinstrumentarien für autochthone Minderheiten, und das Zugestehen von (Territorial-, Kultur- bzw. Personal- und/oder Lokal-)Autonomie, gebunden an statutarisch geregelte Formen von Selbstverwaltung.
Nichts dergleichen ist in zentralstaatlich organisierten und regierten Staaten EUropas auch nur ansatzweise denkbar. Wenn beispielsweise die ethnischen Ungarn in Siebenbürgen (Rumänien) Autonomie etwa nach Maßstäben der Selbstverwaltung verlangen, wie sie die Südtiroler (nach erbitterten Kämpfen mit dem römischen Zentralstaat) in Gestalt einer Autonomen Provinz errangen, so werden sie von allen nationalrumänischen Kräften des Landes, ganz gleich, ob sie in Bukarest regieren oder opponieren, des Separatismus und des Revisionismus bezichtigt. Von Beginn an, also seit den Römischen Verträgen von 1957, hat sich das supranationale Gebilde, das heute unter „Europäische Union“ (EU) firmiert, nicht um Minderheiten-Fragen gekümmert, sondern sie – bequemerweise – zum Objekt institutioneller Zuständigkeit des Europarats erklärt und damit kurzerhand ignoriert.
Zentralstaatliche Bremser, linke Utopisten
Das kam/kommt nicht von ungefähr. Nachgerade am Verhalten einiger westeuropäischer Regierungen gegenüber den Selbständigkeitsbestrebungen der Slowenen und Kroaten, aber auch der Esten, Letten und Litauer (vor der völkerrechtlichen Anerkennung ihrer staatlichen Gemeinwesen, ja mitunter auch noch danach) war im Gefolge von Umbruch und Zeitenwende 1989/90 augenfällig geworden, dass die Furcht vor Separatismus im eigenen Lande das Handeln bestimmte. Dies rührte von der sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst verbreitenden Zuversicht her, wonach im Zuge der Europäisierung die Nationalstaaten allmählich verschwänden und somit die „nationale Frage“ gleichsam als Erscheinung des 19. Jahrhunderts überwunden würde.
Vor allem Linke, Liberale und Grüne, mitunter auch Christdemokraten in West- und Mitteleuropa leisteten mit der theoretisch-ideologischen Fixierung auf die Projektion der „multikulturellen Gesellschaft“ einer geradezu selbstbetrügerischen Blickverengung Vorschub, indem sie vorgaben, mit deren Etablierung sei die infolge zweier Weltkriege entgegen dem Selbstbestimmungsrecht erfolgte Grenzziehung quasi automatisch aufgehoben. Dabei hatte just die machtpolitische Ignoranz historisch-kulturräumlicher Bindung, ethnischer Zusammengehörigkeit sowie der gewachsenen Sprachgrenzen insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg zu spezifischen Minderheitensituationen geführt, deren Konfliktpotential bis in unsere Tage fortwirkt.
Frankreich gilt geradezu als Inkarnation des nationalstaatlichen Zentralismus. Weshalb viele der 370.000 Bretonen mit Sympathie die nach dem Brexit wieder vernehmlicher werdenden Töne der schottischen Unabhängigkeitsbewegung verfolgen, welche im Referendum 2014 nur knapp gescheitert war. Ähnliches gilt für die 150.000 Korsen.
Katalanen-Kundgebung für Unabhängigkeit von Spanien Foto: SHB
Unabhängigkeitsverlangen
In Spanien bekunden besonders die gut 8 Millionen Katalanen (in Katalonien, Valencia und Andorra) sowie 676.000 Basken (im Baskenland und in Navarra) immer wieder machtvoll ihren Willen, die Eigenstaatlichkeit zu erlangen. Davon wäre naturgemäß auch Frankreich betroffen, denn jenseits der Pyrenäen, im Pays Basque, bekennen sich gut 55.000 Menschen zum baskischen Volk. Der 2015 von der baskischen Regionalregierung verabschiedete Plan „Euskadi Nación Europea“ enthält das Recht auf Selbstbestimmung und sieht ein bindendes Referendum vor.
In Belgien hat sich der (nicht nur sprachliche) Konflikt zwischen niederländischsprachigen Flamen und französischsprachigen Wallonen seit den 1990er Jahren zu einer latenten institutionellen Krise ausgewachsen. Von den 5,8 Millionen Flamen (52,7 Prozent der Bevölkerung), die sich ökonomisch gegen die Alimentierung der „ärmeren“ Wallonie (3,9 Millionen Wallonen; 35,8 Prozent der Bevölkerung) wenden und zusehends für die Eigenstaatlichkeit eintreten, sprechen sich die wenigsten für den Erhalt des belgischen Zentralstaats aus.
Die deutschsprachige Gemeinschaft, ein von 87.000 Menschen (0,8 Prozent der Bevölkerung Belgiens) bewohntes Gebilde mit autonomer politischer Selbstverwaltung, eigenem Parlament und eigener Regierung, entstanden auf dem nach Ende des Ersten Weltkriegs abzutretenden Gebiet Eupen-Malmedy, gehört zwar formell zur Wallonie, hält sich aber aus dem flämisch-wallonischen Konflikt weitgehend heraus.
Außerhalb Italiens werden die Unabhängigkeitsverlangen im Norden des Landes meist unterschätzt und weitgehend ausgeblendet. Die politische Klasse in Rom muss hingegen angesichts regionaler Erosionserscheinungen befürchten, dass Bestrebungen, sich von Italien zu lösen, an Boden gewinnen. So beteiligten sich im Veneto 2,36 Millionen Wahlberechtigte (63,2 Prozent der regionalen Wählerschaft) an einem Online-Referendum zum Thema Unabhängigkeit Venetiens, von denen 89,1 Prozent – das waren immerhin 56,6 Prozent aller Wahlberechtigten – auf die Frage „Willst Du, dass die Region Veneto eine unabhängige und souveräne Republik wird?“, mit einem klaren „Ja“ antworteten.
In der lombardisch-„padanischen“ Nachbarschaft zündelt die Lega immer wieder mit Unabhängigkeitsverlangen und strebt ein aus der Lombardei, Piemont und Venetien zu bildendes Unabhängigkeitsbündnis an, das derzeit „pausiert“, weil die Führungsgestalt Matteo Salvini aufgrund politischer Fehleinschätzung seiner „gesamtnationalen Zugkraft“ politisch ins Hintertreffen geraten ist.
Die EU hat – via Entwicklungsschritte EWG und EG – also keine wirklich substantiellen Volksgruppen-Schutzmaßnahmen ergriffen, weil zentralistisch organisierte Nationalstaaten wie Frankreich, Italien, Spanien, Rumänien, um nur die ärgsten Bremser zu nennen, deren Begehr prinzipiell ablehnend gegenüberstehen. Besonders bezüglich Rumänien ist beispielsweise darauf zu verweisen, dass das Verlangen der ungefähr 1,4 Millionen ethnischen Ungarn – und insbesondere der rund 700.000 Székler – nach Autonomie von der gesamten politischen Klasse des Staatsvolks sofort als Sezessionsbegehr und „Revision von Trianon“ gebrandmarkt wird. Gemäß dortigem Friedensdiktat hatte Ungarn 1920 zwei Drittel seines Territoriums verloren.
Frankreich (am 7. Mai 1999) und Italien (am 27. Juni 2000) haben zwar die 1992 vom Europarat verabschiedete und – bezogen auf die realen Auswirkungen für die jeweiligen Staatsnationen – relativ „harmlos“ bleibende „Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ unterzeichnet; ratifiziert und in Kraft gesetzt wurde sie bis zur Stunde von beiden Staaten nicht.
Solange das Manko aufrecht ist, dass die „kleinen Völker“ respektive „kleinen Nationen“ (als die sich nationale Minoritäten/Volksgruppen gerne nennen, weil sie sich als solche verstehen), in jenen Staaten, in denen sie daheim sind, der kollektiven Schutzrechte entbehren, so lange werden sie für diese ein nicht zu unterschätzender Unruhefaktor sein. Enttäuscht sind sie von der EU, von der sie sich in gewisser Weise „Erlösung“ erhoff(t)en. Denn abgesehen von dem den Volksgruppen vom Europäischen Parlament 1991 deklaratorisch zugestandenen „Recht auf demokratische Selbstverwaltung“, womit „kommunale und regionale Selbstverwaltung beziehungsweise Selbstverwaltung einzelner Gruppen“ zu verstehen ist, und abgesehen vom 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon, mithilfe dessen erstmals die „Rechte der Angehörigen von Minderheiten“ (als Teil der Menschenrechte) als Artikel 2 EUV in den sogenannten „EU-Wertekanon“ aufgenommen worden sind, hat sich just das supranationale Gebilde EU als solches den im Zentrum der Bedürfnisse aller nationalen Minderheiten stehenden überindividuellen, also kollektiv einklagbaren Schutzrechten weithin entzogen.
„Erhaltung regionaler Kulturen“
Alldem soll nun eine „Europäische Bürgerinitiative“ abhelfen. Sie ging ursprünglich von den in Siebenbürgen beheimateten Széklern, einem alteingesessenen magyarischen Volksstamm, aus, und hat als „Initiative zur Erhaltung der regionalen Kulturen“ bislang mehr als 1,2 Millionen zustimmende Unterschriften gesammelt. Zunächst wollte die EU-Kommission diese Initiative nicht nur abwürgen, sondern gar nicht erst zulassen. Unterstützt von der Regierung Orbán verklagten die Organisatoren die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof und erhielten recht, woraufhin Brüssel genötigt war, die Angelegenheit zu genehmigen.
Die Organisatoren hoffen, bis zum Fristablauf ihres politischen Unterfangens (7. November 2020) zwei Millionen Unterschriften bzw. über den Internet-Link https://eci.ec.europa.eu/010/public/#/initiative zu erlangende Zustimmungs-erklärungen aus insgesamt mindestens sieben EU-Mitgliedstaaten vorlegen zu können. Vorerst fehlt noch in vier von sieben Ländern die erforderliche Mindestanzahl von Unterschriften, wohingegen in Ungarn, in Rumänien sowie in der Slowakei schon weit mehr als das jeweilige Quorum erreicht ist. Die Initiatoren setzen daher nunmehr vornehmlich ihre Hoffnungen auf weitere Zustimmung aus Irland, Schweden, Dänemark, Deutschland, Österreich und Italien, wo nicht zuletzt aus Südtirol viel Sympathie zu erwarten sein dürfte.
Zwiespältige Erinnerung an die Wiedervereinigung Deutschlands, das Trianon-Trauma Ungarns, den Erhalt der Landeseinheit Kärntens sowie die Annexion des südlichen Tirol durch Italien
Plakataktion „100 Jahre Unrecht….“ des SHB
Der Oktober 2020 zwingt zur Vergewisserung bedeutender Ereignisse, die auf das engste miteinander korrespondieren. Wenngleich nicht auf den ersten Blick zu erkennen, so besteht zwischen der Erinnerung an 30 Jahre Vereinigung der beiden deutschen Rumpfstaaten BRD und DDR, an 100 Jahre Kelsen-Verfassung für Österreich, an 100 Jahre Volksabstimmung in Kärnten, an die territoriale Kastration Ungarns sowie an die formelle Annexion des südlichen Teils des einstigen Kronlandes Tirol durch Italien eine – wenn auch kontrastive, so doch – innere Verbindung.
Die Wiedervereinigung Deutschlands war die glückliche Antwort auf die seit 1945 stets im politischen Raum stehende „Deutsche Frage“. Möglich wurde die deutsche Einheit durch Erosion und Auflösung des Ostblocks zufolge der Implosion des sowjetkommunistisch-moskowitischen sowie des titoistisch-balkankommunistischen Herrschaftssystems und der zwischen Usedom (Mecklenburg-Vorpommern) und Eichsfeld (Thüringen) raumgreifenden „Abstimmung mit den Füßen“
Die von dem bedeutenden Völker- und Staatsrechtler Hans Kelsen entworfene Bundesverfassung, auf die Österreich(er) zurecht stolz ist (sind), manifestierte die Ablösung des über Jahrhunderte bestimmenden monarchischen Herrschaftsprinzips durch den republikanisch-demokratischen Rechtsstaat. Sie markiert(e) damit aber auch die Reduktion des einstigen Staatsgebiets infolge der für die Verlierer des Ersten Weltkriegs in den 1919/1920 unterzeichneten Pariser „Vorortverträgen“ von den Siegermächten, insbesondere von Frankreich, „friedensvertraglich“ diktierten territorialen und materiellen Verluste.
Kärnten, wo die Siegermächte auf amerikanischen Druck hin am 10. Oktober 1920 eine Volksabstimmung erlaubt hatten, entging – maßgeblich zufolge des mehrheitlichen Votums der slowenischen Minderheit Südkärntens für Verbleib bei Österreich – der vom jugoslawischen SHS-Staat (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) verlangten Landesteilung. Ohne Volksabstimmung wurden hingegen per Vertrag von Saint-Germain-en-Laye (1919) das Mießtal dem SHS-Staat sowie das Kanaltal Italien übereignet.
Die Teilung Tirols
Von dem, was nach kriegsbedingter Auflösung des vormaligen österreichisch-ungarischen Imperiums durch die Herausbildung neuer Nationalstaaten an territorialer Substanz für die zunächst an ihrer Existenzfähigkeit zweifelnde Republik (Deutsch-)Österreich verblieb, war die erzwungene Abtretung Südtirols (mitsamt Welschtirol/Trentino) an Italien zweifellos das für das kollektive Bewusstsein der ohnedies notleidenden Bevölkerung einschneidendste Ereignis. Das Zerreißen Tirols, die formelle Annexion des südlichen Landesteils am 10. Oktober 1920, kontrapunktorisch und deklarativ just am Tag der Kärntner Volksabstimmung vollzogen, ist und bleibt, wie der in nämlichem Jahr am 4. Juni im Friedensdiktat von Trianon bestimmte Verlust Ungarns von zwei Dritteln (sic!) des Territoriums, eine Wunde, die nicht verheilen kann – denn damit sind nicht nur Menschen- und Selbstbestimmungsrechte verletzt worden, sondern Völker und Seelen.
„Bella Italia“, das von alters her die Sehnsüchte sonnenhungriger nördlicher Hemisphärenbewohner beflügelnde „Land, wo die Zitronen blühen“ (Goethe), muss sich all seinen heutigen beschönigenden und begütigenden politischen Parolen zum Trotz gefallen lassen, nicht allein von historisch bewussten Betrachtern der „Südtirol-Causa“ als hinterhältiger, sich verstellender politischer Akteur eingestuft zu werden. Schon Bismarck ließ mit seiner Bemerkung nach der quasi parallel vollzogenen Einigung Italiens, die ja erst mit der „Presa di Roma“, der Einnahme der Ewigen Stadt 1870, vollendet war, und der maßgeblich von ihm herbeigeführten Reichsgründung 1870/71 aufhorchen, im Gegensatz zum „satten“ (saturierten) preußisch-deutschen Kaiserreich sei das sardinisch-toskanisch-sizilianische Königreich Italien ein „hungriger“ Staat. „Italien hat einen großen Appetit, aber sehr schlechte Zähne“, bemerkte der Reichskanzler über seinen damaligen Verbündeten.
„Großer Appetit, schlechte Zähne“
Vielfach lieferte Italien hernach Beweise für Bismarcks abfälliges Diktum. Um seinen nationalromantisch verbrämten, quasi der Idee des „Imperium Romanum“ verschriebenen und von „sacro egoismo“ („heiligem Eigennutz“) getriebenen „Hunger“ nach territorialer Ausweitung am adriatischen Gegenufer, in Nord(ost)afrika sowie nicht zuletzt entlang der alpinen Wasserscheide zu stillen und stets zielgerichtet auf „Siegesspur“ und Sieger-Seite zu sein, wechselte es nach Belieben die Fronten.
Südtirol war das kontinentale „Tortenstück“ dieses dem Macht- und Landhunger geschuldeten Seitenwechsels von 1915. Das Gebiet zwischen dem heutigen Salurn und dem Brenner-Pass rundete das Risorgimento-Begehr Welschtirol / Trentino, zuvor Bestandteil Gesamttirols, nach Norden hin bis zur stets von den italienischen Nationalisten eingeforderten Grenzziehung an der Wasserscheide ab. Dafür hatte die Königlich Geographische Gesellschaft das geophysikalische Rüstzeug geliefert, der auch jener Deutschenhasser Ettore Tolomei angehörte, der mit der von faschistischen Gewalttaten auch in Bozen begleiteten Machtübernahme ab 1922 Mussolini als Entnationalisierungsfanatiker im südlichen Tirol (kultur)geschichtsfälschend dienstbar war.
Nichts von dem, was der einstige Ministerpräsident Luigi Luzzatti nach der Unterzeichnung des Friedensdiktats von St.Germain (10. September 1919) im römischen Parlament sagte – „Es muß eine Ehrenpflicht für die Regierung und für das Parlament sein, den Deutschen, die nur wegen der absoluten Notwendigkeit, unsere Grenzen verteidigen zu können, angegliedert wurden, ihre autonomen Einrichtungen zu bewilligen“ – wurde zugestanden. Im Gegenteil: selbst die trientinischen (Welsch-)Tiroler Reichsratsabgeordneten Enrico Conci und Alcide DeGasperi – er sollte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als den Südtirolern wiederum die Selbstbestimmung verweigert wurde, abermals eine verhängnisvolle Rolle spielen – schlugen Töne an, welche sich nicht im geringsten von jenen der Schwarzhemden unterschieden. So schrieb DeGasperi in einem Artikel unter dem Titel „Tirolo addio“, der am 4.12.1918 in der von ihm herausgegebenen Zeitung „Il Nuovo Trentino“ erschien: „Tiroler, euer Leben war unser Tod, nun wird unser Leben euer Tod sein.“
Der faschistische Furor
Mit dem ersten von faschistischen Schlägertrupps am 24. April 1921 in Bozen Getöteten, dem Marlinger Lehrer Franz Innerhofer, nahm die Knechtschaft der Südtiroler ihren Lauf. Benachteiligung, Erniedrigung, Drohungen, Gewalt, Folter, Mord waren sozusagen an der Tagesordnung. Geschichtsfälschungen und die Italianisierung von Vor- und Familiennamen (bis hin zu jenen auf Grabsteinen) sowie von Orts- und Flurnamen, Verbot öffentlichen Gebrauchs der deutschen Sprache, verbunden mit der massenhaften Ansiedlung von ethnischen Italienern in den eigens aus dem Boden gestampften Industrie- und Gewerbezonen, mit der Zerschlagung von Vereinen und Verbänden mittels Verbots sowie der Installation rein italienischer Strukturen, dem Ersatz gewählter Ortsvorsteher durch faschistische Amtsbürgermeister, dem Austausch des für Sicherheit und Ordnung zuständigen Personals sowie der Kujonierung von Medien und Kultureinrichtungen, schließlich der Errichtung des unsäglichen „Siegesdenkmals“ und vielem mehr hatten zum Ziel, den südlichen Teil Tirols in eine rein italienische Provinz zu verwandeln.
Am rigorosesten wütete der faschistische Umerziehungsfuror an den Schulen. In einer höchst ansprechenden, sachkundigen Dokumentation, die der Verein Südtiroler Geschichte zusammenstellte und soeben im effekt!-Verlag (Neumarkt/Etsch) erschien (http://effekt-shop.it/shop/buecher/die-deutschen-brauchen-keine-schulen/ ) ist luzide veranschaulicht, was unter der bereits ein Jahr nach der Einverleibung Südtirols in den italienischen Staatsverband vom damaligen italienischen Vizepräfekten der Provinz Bozen, Giuseppe Bolis, getätigten Aussage zu verstehen gewesenen Richtlinie des faschistischen Erziehungswesens gemeint war: „Die Deutschen brauchen keine Schulen, und wir brauchen auch keine Deutschen“.
Als sich alle kolonialistischen Zwangsmaßnahmen, die Bevölkerung des „Hochetsch“ („Alto Adige“, gemäß damals verordneter, alleingültiger Benennung) zu assimilieren, als fruchtlos erwiesen, zwangen die „Achsenpartner“ Mussolini und Hitler die Südtiroler in einem perfiden Optionsabkommen, sich entweder für das Deutsche Reich zu entscheiden und über den Brenner zu gehen oder bei Verbleib in ihrer Heimat schutzlos der gänzlichen Italianità anheim zu fallen. Obschon die meisten für Deutschland optierten, verhinderte der Zweite Weltkrieg die kollektive Umsiedlung. 1946 lehnten die Alliierten die Forderung nach einer Volksabstimmung in Südtirol ab, woraufhin sich in Paris die Außenminister Österreichs und Italiens auf eine Übereinkunft zugunsten der Südtiroler verständigten, die Bestandteil des Friedensvertrags mit Italien wurde.
Das Gruber-DeGasperi-Abkommen vom 5. September 1946 sah die politische Selbstverwaltung vor, und im Kulturellen wurden muttersprachlicher Unterricht sowie die Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache auf allen Feldern des gesellschaftlichen Lebens garantiert. In Südtirol selbst taten italienische Partisanen und Insurgenten alles, um das Gebiet, das nach der Absetzung Mussolinis 1943 als faktisch unter der Suprematie des Obersten Kommissars der „Operationszone Alpenvorland“ und Gauleiter von Vorarlberg-Tirol Franz Hofer stand, quasi der „Riconquista italiana“ den Weg zu bereiten. Der Publizist Helmut Golowitsch hat soeben minutiös dokumentiert, wie diese Insurgenten im Zusammenwirken mit weiterbestehenden Behörden und Carabinieri der Repubblica di Salò, dem verbliebenen Refugium Mussolinis unter militärischer Protektion von Wehrmacht und SS, alles daransetzten, die Südtirol-Frage auf ihre Art und Weise ein für allemal zugunsten des Umfallers und Kriegsgewinnlers Italien zu lösen. Viele der Übergriffe geschahen unter der Verschwiegenheit der neuen politischen Oberschicht Südtirols sowie der Alliierten. (Helmut Golowitsch: „Repression. Wie Südtirol 1945/46 wieder unter das Joch gezwungen wurde“, Neumarkt/Etsch, Effekt! Verlag 2020, ISBN-9788897053682)
Der Trick des Trientiners DeGasperi
Zwar erließ Rom dann 1948 das vorgesehene Autonomie-Statut und deklarierte es – wie zwischen Vertragspartnern und Siegermächten verabredet – zum Bestandteil der italienischen Verfassung. Allerdings wurde die Provinz Bozen-Südtirol mit der Nachbarprovinz Trient in einer Region („Trentino – Alto Adige“) zusammengefasst. Dieser Trick des verschlagenen Trientiners DeGasperi führte die Majorisierung der deutschen und der ladinischen Volksgruppe durch die italienische herbei, die im Trentino absolut dominant war.
Dagegen und gegen die vom „demokratischen Italien“ ungebrochen fortgeführte Ansiedlung weiterer Italiener in ihrer Heimat protestierten die Südtiroler 1957 unter der Parole „Los von Trient“. Mit Anschlägen auf „Volkswohnbauten“ und andere italienische Einrichtungen machte der „Befreiungsausschuss Südtirol“ (BAS) die Welt auf die verweigerte Selbstbestimmung und die uneingelösten vertraglichen Zusicherungen Roms aufmerksam. 1960 trug der damalige österreichische Außenminister Bruno Kreisky den Konflikt vor die Vereinten Nationen, und da Italien trotz zweier UN-Resolutionen nicht einlenkte, erreichten die Anschläge im Sommer 1961 ihren Höhepunkt. Rom verlegte 22.000 Soldaten sowie Carabinieri in den Norden und stellte das Land unter Ausnahmerecht mit all den damit verbundenen rigorosen Gewaltmaßnahmen gegen die Bevölkerung, insbesondere das Foltern von inhaftierten BAS-Aktivisten. Südtirol rückte infolgedessen auch international in den Mittelpunkt des Weltgeschehens, woran sich heute außer der Erlebnisgeneration und Historikern kaum noch jemand erinnert.
„Paket“ und zweites Autonomiestatut
Nach unzähligen zähen Verhandlungsrunden zwischen Wien und Rom im Beisein von Vertretern beider Tirol einigte man sich auf die Entschärfung des Konflikts, indem man 137 Einzelmaßnahmen an einen „Operationskalender“ band – also an eine zeitlichen Vorgabe für die Umsetzung – und in einer sogenannten „Paket-Lösung“ verschnürte. Bevor diese am 20. Januar 1972 als „Zweites Autonomiestatut“ in Kraft treten konnte, musste ihm die Südtiroler Volkspartei (SVP), die seit 1945 maßgebliche politische Kraft im Bozner Landhaus, zustimmen. Auf der SVP-„Landesversammlung“ in der Kurstadt Meran kam 1969 eine knappe Mehrheit dafür zustande.
Es sollte weitere zwanzig Jahre und ungezählter Verhandlungen im Reigen stets wechselnder italienischer Regierungen in Anspruch nehmen, die wesentlichen Bestimmungen über die Selbstverwaltung umzusetzen sowie die annähernde Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache im öffentlichen Leben sowie die Stellenbesetzung gemäß ethnischem Proporz zu verwirklichen. Erst 1992 konnte das „Paket“ für erfüllt und am 11. Juni der Südtirol-Konflikt durch Abgabe der „Streitbeilegungserklärung“ vor den Vereinten Nationen formell für beendet erklärt werden. Zuvor hatte der damalige italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti im römischen Parlament sowie mittels eines Briefes nach Wien die Zusicherung gegeben, dass Änderungen daran nur mit Zustimmung der Südtiroler vorgenommen werden dürften.
Ohne Perspektive
Letzteres ist seitdem vielfach nicht eingehalten oder im Sinne der von Rom in Anspruch genommenen zentralstaatlichen „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ (AKB) stark verwässert worden. Die SVP fand sich immer öfter bereit, von Rom dekretierte Änderungen an Substanz und Charakter des Statuts letztlich in „kompromisslerische“ Reduktionsforme(l)n zu kleiden. Sie nahm diese Änderungen hin, um den Anschein von „Convivenza/Zusammenleben“ aufrecht zu erhalten sowie die von ihr ebenso wie von den jeweils in Rom Regierenden verabsolutierte, angeblich „beste Autonomie der Welt“ nach innen außen als „modellhaft“ anzupreisen. Und nicht zuletzt auch, um möglichst die ihr insbesondere seit den 1980er Jahren zugewachsene politisch-ökonomische Macht zu erhalten, von deren ökonomisch-finanziellen wie sozialen Pfründen das Gros ihrer in Gemeinden, Provinz und Region wirkenden Funktionsträger profitiert.
Von der „Autonomie-Partei“ SVP, deren geduldiger, langwieriger, mitunter bis zur Selbstverleugnung reichendes politisches Wirken für ein erträgliche(re)s Dasein der Südtiroler, zuvorderst für eine prosperierende Wirtschaft und eine geordnete Verwaltung, die den Zuständen in Italien hohnspricht, nicht gering geschätzt werden soll, ist daher insbesondere unter ihrer gegenwärtigen Führung nicht zu erwarten, dass sie je an eine Änderung des Status quo auch nur denkt oder gar einen „Plan B“ in die Schublade legte, um für Eventualitäten gerüstet zu sein. Demgegenüber weisen alle austro-patriotischen Kräfte beidseits des Alpenhauptkamms und von Vorarlberg bis ins Burgenland völlig zurecht darauf hin, dass in sämtlichen Befunden aus mehreren demoskopischen Erhebungen der letzten Jahre – sowohl in Südtirol, als auch in Österreich selbst – klar zutage tritt, dass sich die weit überwiegende Mehrheit der Befragten stets für die Beseitigung bzw. Überwindung des Teilungszustands ausgesprochen hat.
„100 Jahre Unrecht machen keinen Tag Recht“
Es kann daher nicht verwundern, dass sich Tiroler im Zusammenhang mit dem deutschen Staatsfeiertag (3. Oktober) zur Erinnerung an die Wiedervereinigung 1990 die Frage stellen, was „das Bundesland Tirol, die Autonome Provinz Bozen-Südtirol und die Republik Österreich zur Vereinigung Süd-, Ost- und Nordtirols unternehmen“. Dabei wissen die derart Fragenden von vornherein, was sie, wenn überhaupt, aus Wien, Innsbruck und Bozen gegebenenfalls zur Antwort erhalten, nämlich dass „die einst trennenden Grenzen seit dem EU-Beitritt Österreichs nicht mehr wahrnehmbar, ja sogar überwunden“ seien und sich die „Landeseinheit durch EUropäisierung verwirklichen“ lasse, was institutionell bereits in der „Euregio Tirol Südtirol Trentino“ bzw. dem „Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit“ (EVTZ) seinen Ausdruck finde. Kollektiverfahrungen im Zusammenhang mit Grenzschließungen wegen der Abwehr des Flüchtlingszustroms respektive mit Grenzkontrollen aufgrund der Corona-Pandemie strafen derartige politische Beschönigungen ebenso Lügen wie der Blick auf die unverkennbare Renationalisierung der Staatengemeinschaft EU, deren Monstrosität, Entscheidungsschwäche und Kraftlosigkeit als internationaler Akteur.
Markierung der Mitte Tirols durch den Schützenbezirk Brixen
Vereinigungen wie Schützen (SSB), Heimatbund (SHB) und deutschtiroler Landtagsopposition halten indes daran fest, immer wieder – und in diesem Gedenk-Herbst umso mehr – das völkerrechtswidrige Zerreißen Tirols und die stete Verweigerung der Selbstbestimmung ins Gedächtnis zu rufen. Beispielhaft und aller Ehren wert sind in diesem Zusammenhang das „Kenntlichmachen der Mitte Tirols“ durch einen geweihten Markierungsstein, den der Schützenbezirk Brixen in unmittelbarer Nähe des Schutzhauses „Latzfonser Kreuz“ im Gebirge auf Gemeindegebiet von Klausen errichtete, sowie die von Trient bis Wien organisierte Plakataktion des SHB unter der Losung „100 Jahre Unrecht machen keinen Tag Recht“.
Im „Massengrab mit nicht abgeholter Asche“ verschwanden Stalins letzte Opfer aus Österreich und Deutschland
Unlängst beging der weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannte und an zahlreichen internationalen Opernbühnen wirkende Tenor Adolf Dallapozza seinen 80. Geburtstag. Kammersänger Dallapozza, Ehrenmitglied der Wiener Volksoper, entstammt einer Südtiroler Familie. Vater Virginius war kunstgewerblicher Maler aus Bozen, die musisch begabte Mutter Gisela, eine gebürtige Bartolotti, aus Branzoll im Südtiroler Unterland. Aus der am 21. Juni 1921 geschlossenen Ehe gingen neun Kinder hervor. Adolf Dallapozza, der jüngste Sohn, war, wie seine Geschwister, noch in Südtirol geboren worden. Er kam, noch in seinem Geburtsjahr 1940, mit der gesamten Familie infolge des zwischen Hitler und Mussolini geschlossenen Optionsabkommens, zufolge dessen sich die Südtiroler entscheiden mussten, entweder ihre Heimat zu verlassen und ins Reich umzusiedeln, oder in Italien zu bleiben und damit durch erzwungene Assimilation letztlich ihre national-kulturelle Identität an die Italianità zu verlieren, schließlich nach Wien, wo seine internationale Karriere ihren Anfang nahm, und wo er als gefeiertes Ehrenmitglied der Volksoper seinen Lebensabend verbringt.
Anders sein um 15 Jahre älterer Bruder: Emil Dallapozza, am 19. September 1925 noch in Branzoll geboren, ereilte elf Jahre nach der Umsiedlung ein besonders tragisches Schicksal, über dessen nähere Umstände die Eltern – der Vater verstarb 1964, die Mutter 1980 – niemals etwas, die Geschwister, soweit sie noch lebten, erst nahezu 60 Jahre später die Wahrheit erfuhren. Zwar hatte die Familie neun Jahre nach seinem plötzlichen Verschwinden über Nachforschungen des Roten Kreuzes die Mitteilung erhalten, dass er in der Sowjetunion verstorben sei. Nähere Auskünfte waren aber aufgrund des apodiktischen Hinweises, weitere Nachforschungen seien zwecklos, unterblieben.
Emil Dallapozza · Foto: BIK Graz
Mit Bitterkeit in der Stimme hatte sich Anna-Maria Melichar, eine Schwester, seinerzeit gegenüber Historikern des in Graz ansässigen „Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung“ (BIK), die anhand von Akten aus russischen Archiven den verhängnisvollen Weg nachzeichneten, der für ihren Bruder in einem Moskauer Massengrab endete, und damit den Angehörigen die Augen über das Schicksal des Bruders öffneten, jenes Tages erinnert, da sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte: „Er ist in der Früh weggegangen und nie mehr wiedergekommen. Meine Mutter hat immer wieder verzweifelt nachgefragt, aber erst 1960 erfahren, dass er gestorben ist – mehr nicht.“ Es war der 11. Juni 1951, als Emil Dallapozza spurlos verschwand. Er war in die Fänge von Häschern der sowjetischen Spionageabwehr-Sondereinheit SmerSch (Смерш) – das Akronym steht übersetzt für „Tod den Spionen“ – und damit in die tödliche Mühle von Stalins erbarmungsloser Justiz geraten. Grund seiner Festnahme: „Spionage für den französischen Geheimdienst“.
Aus den Akten geht hervor, dass Emil Dallapozza in St. Pölten die Kennzeichen zweier sowjetischer Kraftfahrzeuge notiert sowie Notizen über eine dort stationierte Militäreinheit gemacht hatte und auf „frischer Tat“ beim „Sammeln von Informationen“ ertappt und festgenommen worden war. Laut Protokoll des Militärtribunals bekannte er sich im Verhör in Baden bei Wien, wohin man ihn schaffte, zu seiner Schuld. Am 25. August 1951 verurteilte es ihn zur Höchststrafe, zum Tode durch Erschießen; Grundlage war der berüchtigte Paragraph 58 Absatz 6 des Strafgesetzbuchs der UdSSR. Man verbrachte ihn ins Butyrka-Gefängnis nach Moskau, eine wegen vorherrschender Brutalität und entwürdigender Haftbedingungen berüchtigte Anstalt. Dort schrieb er ein Gnadengesuch, in welchem er darlegte, dass er nicht aus politischen Motiven gehandelt habe: „Der ergebenst Gefertigte Emil Dallapozza […] macht von der sowjetischen Rechtswohltat Gebrauch und bittet um Umwandlung der Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe. Zur Bekräftigung seiner Bitte weist er noch auf seine Unbescholtenheit und seine Parteilosigkeit hin, wodurch erwiesen ist, dass seine Straftat keinem politischen Hassgefühl entsprungen ist.“ Am 29. September 1951 lehnte das Oberste Gericht der UdSSR, am 23. Oktober das Präsidium des Obersten Sowjets sein Gnadengesuch ab. Emil Dallapozza wurde am 10. November 1951 erschossen, sein Leichnam eingeäschert und die Asche auf den Donskoje-Friedhof verbracht.
Grab Nr. 3 mit nicht abgeholter Asche 1945-1953 Foto: BIK
Wie dem Österreicher aus Südtirol, den die russische Hauptmilitärstaatsanwaltschaft (GVP) am 15.Mai 1998, zehn Jahre, bevor seine Angehörigen durch die Grazer Forscher davon Kenntnis erhielten, förmlich rehabilitierte, erging es auch dem 1923 geborenen Deutschen Herbert Killian. Der 1946 aus amerikanischer Gefangenschaft entlassene vormalige Wehrmachts-Leutnant wurde am 12. April 1950 in Radebeul verhaftet, am 28. September wegen Spionage zum Tode verurteilt und am 12. Februar 1951 in Moskau erschossen. In seinem Gnadengesuch beteuerte er, „nur unter Zwang“ gehandelt zu haben. Dreimal sei er für seinen Auftraggeber in die SBZ (Sowjetische Besatzungszone des geteilten Deutschland, später DDR) gereist. Wegen „Spionage für den amerikanischen Nachrichtendienst“ – dem Sammeln von Datenüber sowjetische Einheiten und Flugplätze in Berlin, Chemnitz, Cottbus, Bautzen und Berlin – verurteilte ihn ein Militärtribunal in Berlin zum „Tode durch Erschießen“. Zusammen mit Killian wurden zwei weitere Deutsche, Erich Reinhold und Felix Müller, zum Tode verurteilt; gegen 21 weitere Deutsche wurden hingegen „nur“ 25 Jahre Arbeitslager im sibirischen GULag als Strafmaß verhängt. 1994 erklärte die GVP Herbert Killian für rehabilitiert.
Das tatsächliche Schicksal all derer, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg unter solchen oder ähnlichen Umständen ums Leben kamen, war bis vor wenigen Jahren völlig unbekannt. Zwar hatten Angehörige der Vermissten während der „Tauwetterperiode“ und „Entstalinisierung“ unter Nikita Chruschtschow 1956/57 offizielle Todesmitteilungen erhalten, doch die Todesursachen waren allesamt fingiert: Lungen-Tbc, Nierenversagen, Gehirnblutung. Der entscheidende Hinweis auf ihr wahres Ende kam Jahrzehnte später von Arsenij Roginskij, Chef der einst von Andrej Sacharow gegründeten Bürgerrechtsorganisation „Memorial“. Laut „Memorial“ wurden zwischen 1945 und Stalins Todesjahr 1953 insgesamt siebentausend Menschen in der „Butyrka“ erschossen, unter ihnen mehr als tausend deutsche und 132 österreichische „Spione“. Roginskij nahm Kontakt zu Stefan Karner auf, dem damaligen Leiter des BIK in Graz. Dank „Entgegenkommens des Moskauer Staatsarchivs aufgrund jahrelanger vertrauensvoller Zusammenarbeit“ sei es dann, so Karner, „möglich geworden, die Schicksale dieser besonderen Gruppe unter den letzten Opfern Stalins zu rekonstruieren. Wir haben die Gnadengesuche der zum Tode Verurteilten und die Antworten – sie wurden alle mit einer unvorstellbaren Brutalität abgelehnt.“
Die 24 Jahre alten Buchhalterin Hermine Rotter aus Wien schrieb in ihrem Gnadengesuch: „Ich flehe zu Ihnen, ohne Eltern, ohne Heimat, da ich sonst niemand mehr habe, mein nacktes Leben zu retten und mich von dem grässlichen Tode freizusprechen. Ich schwöre dem russischen Staat meinen heiligen Eid, sollte das Hohe Gericht mir diese Gnade des Lebens erteilen, meine ganze Kraft, Arbeit, Fleiß und guten Willen zu geben und Ihnen in der Sowjetunion zu beweisen, dass ein junges Wiener Mädchen einen großen Fehler begangen hatte, aber als Wiedergutmachung Ihnen ihr Leben durch Arbeit und ein gutes Herz schenkt. Ich zünde für jeden Soldaten Ihres Landes, welcher im Kriege starb, abends in meinem Herzen ein Lichtlein an und denke dabei als Wienerin, alles gutzumachen, was ich an Ihnen verbrochen habe.“ Es half nichts: Am 9. Oktober 1951 wurde Hermine Rotter im Keller der „Butyrka“ erschossen – wegen „antisowjetischer Spionage“. In derselben Nacht wurde ihr noch nicht erkalteter Leichnam im Krematorium auf dem Friedhof des ehemaligen Klosters Donskoje verbrannt. Ihre Asche schüttete man ins wenige Schritte entfernte Grab Nr. 3, das „Massengrab mit nicht abgeholter Asche aus den Jahren von 1945 bis 1989“, als das es heute offiziell bekannt ist. Ihre Angehörigen erhielten nach dem Abschluss des Staatsvertrages und dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen aus Österreich 1955 eine Todesnachricht mit fingierter „natürlicher“ Todesursache.
Von 2201 Zivilisten, die sowjetische Organe bis 1955 in Österreich verhafteten, erhielten mehr als tausend hohe Haft- und Lagerstrafen.132 Personen verurteilte das Militärtribunal zum Tode: 39 in den Jahren 1945 bis 1947; 93 zwischen 1950 und Stalins Tod am 5. Februar 1953.1947 hatte Stalin die Todesstrafe vorübergehend ausgesetzt; drei Jahre später führte er sie wieder ein. Niemand in Österreich wusste, dass im Kurort Baden bei Wien derartige „Prozesse“ stattfanden, bei denen die Beschuldigten keine Chance hatten, sich zu verteidigen. Die Anklage war stets dieselbe: Spionage; ebenso das Urteil: Tod durch Erschießen.
In den meisten Fällen waren es aber wohl Lappalien, derer sich die Verhafteten „schuldig“ gemacht hatten, getrieben oft aus schierer materieller Not. So im Falle des Stefan Buger. Buger war Fahrdienstleiter bei der österreichischen Eisenbahn. Im Verhör vor dem Militärtribunal legte er seine „finanzielle und materielle Not“ dar, die ein Angehöriger des französischen Geheimdienstes namens Fuczik „erbärmlich und schändlich ausgenutzt“ habe: „Ich hatte einen Monatslohn von 690 Schilling, auf Lebensmittelkarten nichts bekommen, alles nur am schwarzen Markt. 1 kg Schmalz 400 Schilling, Zucker 220 Schilling, Mehl 45 Schilling, ein Ei 230 Schilling, Fleisch 300–350 Schilling. Meine Familie unterernährt, Kinder hatten Hunger und nicht einmal das Notwendigste an Brot und Fett zuhause“, gab Buger zu Protokoll. Als Gegenleistung für Informationen über Fracht und Häufigkeit des Verkehrs sowjetischer Güterzüge soll Buger „4000–4500 Schilling an Geld oder Produkten wie Schmalz, Mehl, Zucker“ erhalten haben. 1948, nach Fucziks „Verschwinden“, brach er jeglichen Kontakt zum Geheimdienst ab. Was Buger nicht wusste: Fuczik war wegen Spionage zu 25 Jahren GULag verurteilt worden und hatte seinen Namen preisgegeben. Buger wurde am 11. Juli 1952 in Moskau hingerichtet.
Stefan Buger . Foto: BIK Graz
Daheim rätselte seine ahnungslose Familie jahrelang über die Gründe für sein plötzliches Verschwinden: „Wir haben halt immer wieder spekuliert, ob er als Fahrdienstleiter vielleicht einen Zug mit Juden ins KZ gebracht hat“, sagte sein Sohn.
Ein anderer Fall, den die Grazer Wissenschaftler klärend rekonstruierten, ist der des Leo Thalhammer. „Der Fabrikarbeiter Leo Thalhammer wurde aufgefordert, auf die Kommandantur zu kommen und wurde seither nicht mehr gesehen“, hieß es in einer Meldung der „Arbeiterzeitung“ Ende September 1951. Seine Frau Anna ahnte sogleich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste: „Den Leo ham’s sicha daschossn.“ Sein Schwager Ernst Feichtinger, laut KGB-Akten ein Agent des amerikanischen Geheimdienstes CIC, hatte Thalhammer als Informanten angeworben. Er sollte berichten, was bei den Messerschmitt-Werken in Wiener Neustadt hergestellt wurde. In seinem Gnadengesuch vom 6. Dezember 1951 bot Thalhammer „ … mein „ganzes Können für den Aufbau von Russland an, um meine Tat gutzumachen“. Vergeblich: Am 1.März 1952 wurde er zusammen mit seinem Schwager Feichtinger in Moskau exekutiert. 1956 erhielt die Familie die Nachricht, er sei infolge „Zerreißens der Aorta“ verstorben – eine vordergründig zwar korrekte, aber doch zutiefst zynische Darstellung.
Gnadengesuch Thalhammer · Foto: BIK Graz
Isabella Maria Lederer wiederum wurde die leibliche Verwandtschaft mit einem vormaligen SS-Offizier zum Verhängnis, der für den amerikanischen Geheimdienst arbeitete. Die Grazerin wurde von ihrem Bruder angeworben. Ob sie bloß an Geld kommen wollte, um ihre drei Kinder durchzubringen oder tatsächlich politische Motive hatte, bleibt ungeklärt. Sie fuhr oft nach Wien, um Flugblätter zu verteilen, auf denen namens eines „Nationalen Arbeitskreises“, einer weißrussischen Organisation, dazu aufgefordert wurde, die Fronten zu wechseln. Stets mit dabei waren ihr 17 Jahre alter Sohn Horst und ihre vier Jahre alte Tochter Roswitha. Über ihre Festnahme berichtete im Mai 1952 sogar die „Austria Presse Agentur“. Am 18. Juli 1952 sah Horst Lederer seine Mutter zum letzten Mal im „Gerichtssaal“ des sowjetischen Militärs in Baden. Als die Übersetzung des Urteils verlesen wurde, konnten beide das Gehörte kaum fassen: wegen „antisowjetischer Agitation“ Tod durch Erschießen für die 42 Jahre alte Soldatenwitwe und Mutter dreier Halbwaisen; 25 Jahre „Arbeitsbesserungslager“ für den minderjährigen Sohn. „Sie war wie versteinert“, erinnerte sich Lederer, „ich streichelte ihr die Hand und sagte ‚Es tut mir so leid‘.“
Lederer Familienbild 1949 · Foto: BIK Graz
Drei Tage nach dem Urteilsspruch schrieb auch Isabella Lederer ein Gnadengesuch: „Ich bitte aus tiefstem Herzen das Präsidium die verzweifelte Bitte einer Mutter zu erfüllen, das furchtbare Urteil zu ändern und mir die Möglichkeit zu geben, einmal wieder mein Leben bei meinen Kindern zu verbringen.“ Am 11. September wurde die Bitte um Gnade abgelehnt, vier Wochen später vollstreckte Wassilij Michailowitsch Blochin im Keller der Moskauer „Butyrka“ das Urteil. Horst Lederer, sein Leben lang erfüllt vom Schmerz über das Schicksal seiner Mutter, hatte Glück: die Sowjetmacht verfrachtete ihn „nur“ nach Alexandrowsk in Sibirien, im Juni 1955 schickte sie ihn nach Hause.
Stalins Henker Blochin · Foto: BIK Graz
Wasilij Michailowitsch Blochin war von 1924 bis 1953 für die Exekution von „Staatsfeinden“ verantwortlich. Der Gebieter über das „Untersuchungsgefängnis Nr. 2“ trat dabei stets auf, als wolle er die Delinquenten eher köpfen denn ihnen den Genickschuss zu verpassen; er hatte die Kleidung eines Schlächters angelegt: braune Schirmmütze, lange Lederschürze und Handschuhe, die bis über die Ellbogen reichten. Seine sorgfältig gepflegte Ruhestätte befindet sich keinen Steinwurf entfernt vom Massengrab seiner Opfer. Dank der Forschungen der Grazer Historiker bekamen sie wie der gebürtige Südtiroler Emil Dallapozza und seinesgleichen zumindest ihre Namen zurück und die Angehörigen sowie die Nachgeborenen Einsichten über ihr gnadenlos-trauriges und menschenverachtendes Schicksal. Tiefschürfende, dokumentierte Befunde und Erkenntnisse darüber bietet das von Stefan Karner und Barbara Stelzl-Marx herausgegebene Buch „Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950–1953“.
Grabmal Blochins und seiner Frau Natalija Aleksandrowna Blochina Foto: BIK
In Südtirol leuchten Feuerschriften auf und die Stimmung schlägt um
Im Lande an Eisack und Etsch gärt es. Feuerschriften leuchten auf. „Jetzt reicht‘s“ verkünden brennende Fackel-Schriftzüge zwischen Pustertal, Burggrafenamt und Vinschgau. „Freistaat“ heißt ein Verlangen auf Spruchbändern. „Kurz, hol uns heim“ fordern Aufschriften auf an Brücken befestigten Tüchern als Wunsch an den österreichischen Bundeskanzler. Und in Weinbergen, an Felswänden, Heustadeln und Gartenzäunen prangt auf Spruchtafeln, was des Nachts Flammenschriften an Bergrücken bekunden: „Los von Rom“.
Die Folgen der Corona-Krise zeitigen im südlichen Teil Tirols, von Italien 1918 annektiert und ihm im Vertrag von St. Germain 1919 als Belohnung für seinen Seitenwechsel 1915 zugesprochen, einen markanten Stimmungsumschwung in der Bevölkerung. Der öffentlich vernehmliche Unmut gegen das Dasein im fremdnationalen Staat, und der Rückgriff auf das „Los von Rom“, einer Losung, welche die 1950er Jahren maßgeblich beherrschte, in den 1960er und 1970er Jahren aber infolge der Autonomie- und „Paket“-Politik, in welcher das „Los von Trient“ dominierte, eher schwand, und allenfalls noch von austro-patriotischen, in ganz geringem Maße auch von deutschnationalen Kräften als Ziel hochgehalten wurde, hat in den „Corona-Wochen“ durch Maßnahmen, wie sie dem typischen römischen Zentralismus immer wieder eigen sind, einen enormen Auftrieb erhalten.
Unübersehbar war und ist, dass selbst die Südtiroler Volkspartei (SVP), seit 1945 dominante und mehr oder weniger unangefochtene politische Kraft in der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol, von diesem demoskopisch greifbaren und allerorten zu vernehmenden Umschwung erfasst zu sein scheint. Eine SVP, deren (seit Abgang der „Alten Garde“) janusköpfige Führung – hie Parteiobmann Philipp Achammer, da Landeshauptmann Arno Kompatscher – seit Amtsantritt 2014 stets mehr Italophilie zeigte denn von historisch gebotener Österreich-Empathie berührt ist. Die Auswirkungen der Corona-Krise, insbesondere das notorisch zu nennende zentralstaatliche Gebaren Roms, das der – von der SVP bisweilen verabsolutierten – Autonomie Hohn spricht und die Südtiroler „Selbstverwaltung“ ad absurdum führt(e) – setzten quasi über Nacht eine Kurswende in Gang. So beschloss die SVP-Parteiführung, als sie gewahrte, dass sich der Stimmungsumschwung in Wirtschaft und Gesellschaft Südtirols letztlich auch zu ihren machtpolitischen Ungunsten auswirken würde, eine Kehrtwende. Sie bekundete, die von ihr geführte Landesregierung werde nicht einfach mehr die als abschnürend empfundenen Dekrete von Ministerpräsident Conte in vom Landeshauptmann quasi übersetzte Anordnungen kleiden, sondern durch ein eigenes – in autonomer Zuständigkeit aufgrund primärer Zuständigkeit vom Landtag zu verabschiedendes – Landesgesetz ersetzen, welches den Bedürfnissen der Bevölkerung zwischen Brenner und Salurner Klause Rechnung trage.
„Für uns ist es nicht akzeptabel, das unsere Autonomie weiter eingeschränkt wird“, hatte Kompatscher nach einer Videokonferenz des Regionenministers Francesco Boccia mit den Regierungschefs der Regionen und autonomen Provinzen sowie mit Zivilschutz-Chef Angelo Borrelli und dem außerordentlichen Covid-19-Notstands-Kommissar Domenico Arcuri dargelegt. Boccia hatte bekräftigt, dass Sonderwege für Gebietskörperschaften erst vom 18. Mai an zulässig seien. Daher, so Kompatscher, werde Südtirol nicht nur den „schwierigen gesetzgeberischen Weg gehen, um Schritt für Schritt das wirtschaftliche Leben wieder in Gang zu bringen“, sondern gemäß dem einmütigen Beschluss des SVP-Führungsgremiums auch die römischen Parlamentarier der Partei veranlassen, die (ohnehin labile) Regierung Contes – nach Hinauswurf Salvinis und der Lega von dem im linken Parteienspektrum angesiedelten Partito Democratico (PD) und der Movimento 5 Stelle (M5S; „Bewegung 5 Sterne“) sowie einer PD-Abspaltung unter dem früheren Ministerpräsidenten Renzi mehr schlecht als recht getragen – nicht länger zu unterstützen.
Der gesetzgeberische Akt Südtirols wird letztlich zwangsläufig zu einem Konflikt führen, der nicht allein bis zum römischen Verfassungsgerichtshof reichen würde, wenn Rom auf seiner trotz aller schönfärberischen Lobhudeleien, die zwischen Rom und Bozen, aber auch zwischen Wien und Rom ob der „weltbesten Autonomie“ und der „friedlichen gutnachbarschaftlichen Lösung des seit Ende der Teilung Tirols 1919/20 bestehenden Südtirolkonflikts“ durch die Streitbeilegungserklärung gegenüber den Vereinten Nationen 1992 fortbestehende „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ (AKB) seiner Zentralgewalt besteht und den Landtagsbeschluss für null und nichtig erklärt. Was nach aller historisch-politischen Erfahrung geschehen dürfte.
Doch unabhängig davon, ob Rom dann eine Art Zwangsverwaltung über Südtirol verhängt – denn selbst bis zu einer „Eilentscheidung“ des römischen Verfassungsgerichtshofs, die erfahrungsgemäß kaum zugunsten Südtirols ausfallen dürfte, würde wohl eine erhebliche Zeitspanne verstreichen – oder nicht, könnten alle damit verbundenen Akte wohl kaum ohne erhebliche Spannungen realisiert werden. Eigentlich sieht ja das in vielen damaligen Verhandlungen vereinbarte und 1969 gutgeheißene „Südtirol-Paket“ und das darauf fußende Zweite Autonomiestatut von 1972 rechtsverbindlich vor, dass alle von Rom hinsichtlich Südtirols zu treffenden Maßnahmen stets nur im Einvernehmen mit den dortigen Gremien in Kraft gesetzt werden können. Notfalls steht es Bozen zu, Wien sozusagen als „Schutzmacht“ anzurufen; lediglich der Gang vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) ist im Zuge der damaliger Verhandlungen nicht als Vertragsbestandteil fixiert worden, was sich, wenngleich in Wien und Bozen von manchen seinerzeit mahnend verlangt, als kaum mehr gutzumachendes Hemmnis für die Südtiroler Sache insgesamt erweist.
Die SVP – in der Anfang 2019 gebildeten Landesregierung auf die Südtiroler Provinzorganisation der starken Lega angewiesen – hat dabei nicht allein ihren Koalitionspartner an der Seite; die Lega ist seit dem „Hinauswurf“ ihres demoskopisch erfolgsverwöhnten römischen Vormanns Salvini mit der römischen Regierung ohnedies auf striktem Konfliktkurs. Auch auf die deutschtiroler Oppositionskräfte im Landtag, Freiheitliche Partei (FPS) und Süd-Tiroler Freiheit (STF), kann sie in dieser Sache zählen, wenngleich beiden die im Landesgesetz fixierten Erleichterungen nicht in allen Punkten zusagen oder sie für zu wenig weitreichend erachten; Hauptsache man setzt Zeichen für ein gemeinsames Aufbäumen gegen Rom und dessen scheibchenweiser Aushöhlung der autonomen Zuständigkeiten Südtirols. Diese sind längst weit von der seit 1992 von der SVP erstrebten „dynamischen Autonomie“ entfernt , ganz zu schweigen von der von ihr einst als hehres Ziel proklamierten „Vollautonomie“, von der in letzter Zeit kaum noch die Rede gewesen ist.
Dass die SVP sozusagen „in letzter Minute“ die (nicht allein in Feuerschriften aufflammenden und auf Transparenten ersichtlichen) „Zeichen der Zeit“ erkannte – und allem Anschein nach damit zudem einen bisweilen an die Öffentlichkeit drängenden Rivalitätskonflikt Achammer – Kompatscher einzuhegen trachtete – ist unverkennbar auf auch vernehmliches innerparteiliches Rumoren zurückzuführen. Die (laut)stärkste Stimme in dieser Situation war/ist die der Wirtschaft, die in der von Interessenbünden geprägten SVP – Wirtschaft, Bauern, Arbeitnehmern, als den gewichtigsten – die Melodie vorgab, verstärkt durch die Tageszeitung „Dolomiten“, die sich allzugerne als SVP-„Wegweiser“ geriert, wenn nicht bisweilen gar als deren Quasi-Parteiorgan fungiert. Markant auch der Mahnruf Christoph Mastens. Der langjährige SVP-Wirtschaftsfunktionär, seit 40 Jahren Parteimitglied, bedient sich seines Internet-Organs VOX-News Südtirol, um der jetzigen Parteiführung und insbesondere dem Landeshauptmann sowie den SVP-Landesräten (Ministern) in griffigen Anklagen nicht nur fehlendes Führungsmanagement , Misswirtschaft, Versagen vorzuhalten, sondern auch „gewissenlosen Verrat an der Südtirol- Autonomie und am Südtiroler Volk zu unterstellen – gipfelnd in zündenden VOX-Losungen wie „Jetzt Vollautonomie oder Freistaat“.
Dass solche Stimmen nicht nur in austro-patriotischen Verbänden wie dem Südtiroler Heimatbund (SHB), der Vereinigung ehemaliger Freiheitskämpfer der 1960er bis 1980er Jahre, und des Südtiroler Schützenbundes (SSB) Resonanz finden und verstarken – SSB- Kompanien waren maßgeblich an der Organisation der weithin ersichtlichen und Rom, wo natürlich reflexartig von Separatismus-Bestrebungen die Rede war, erzürnenden Parolen und Leuchtfeuern beteiligt – sondern in „Los von Rom“-Stimmung münden, liegt auf der Hand. Ebenso lässt gleichlautende Flammenschriften bzw. der aus weithin im Lande lodernden Fackeln konfigurierte Tiroler Adler „Gänsehaut“ bei vielen Leuten entstehen – just eingedenk signifikanter Parallelität zum Tiroler Freiheitskampf des Andreas Hofer wider französische und bayerische Fremdherrschaft bis hin zu den 1960er und 1970er Jahren, da sich in Gestalt der Freiheitskämpfer des BAS (Befreiungsausschuss Südtirol) der „Tiroler Adler gegen den italienischen Staat“ erhob.
Es sind daher nicht mehr nur, wie seither eher die Oppositionsanhänger, wenige Südtiroler, die vom römischen Zentralismus, ja von der nicht selten unter dem Gebot des „friedlichen Miteinanders“ erzwungenen Unterwerfung unter die Lupa Romana genug haben. Mehr und mehr Bewohner des Landes zwischen Dolomiten und Reschen halten die bisher praktizierte Form der Südtirol-Autonomie für gescheitert, sehen im politkommunikativen Gesäusele von der die Teilung Tirols überwindenden „Zukunft durch EUropäisierung“, praktiziert in einem mehr oder weniger papierenen Gebilde namens „Europaregion Tirol“, nurmehr Augenauswischerei. Der latente Krisenzustand der EU, wie er besonders während der „Coronitis“ dadurch augenfällig wurde, dass der Rückfall in nationalstaatliches Gebaren als Überlebensnotwendigkeit erachtet und vor aller Augen sichtbar wurde, verstärkte dies Empfinden. Der Gedanke, sich nicht nur „stärker von Rom zu lösen“, sondern sich nach nunmehr 100 Jahren der Zwangseinverleibung, zweimal verweigertem Selbstbestimmungsrecht und idenitätszerstörendem Assimilationsdruck tatsächlich in aller Form und Konsequenz von Italien zu verabschieden, für das namhafte Gesellschaftswissenschaftler ohnedies prognostizieren, seine Auflösung sei kaum mehr aufzuhalten (und für die EU eine „Zeitbombe“; https://zeitung.faz.net/faz/geisteswissenschaften/2020-05-06/die-zeitbombe-ist-der-zerfall-italiens/456075.html ) bricht sich Bahn. Bei Protestfeuern, lodernden Tiroler-Adler-Silhouetten und Spruchbändern mit dem schneidenden Verlangen „Kurz, hol uns heim“ wird es wohl nicht bleiben.
Helmut Golowitsch legt Österreichs bisweilen heuchlerisch betriebene Südtirolpolitik offen
Ob unmittelbar nach dem Zweiten
Weltkrieg tatsächlich die Chance für die in eindrücklichen Willensbekundungen
der Bevölkerung sowie in politischen und
kirchlichen Petitionen zum Ausdruck gebrachte Forderung nach Wiedervereinigung
des 1918/19 schandfriedensvertraglich geteilten Tirols bestand, ist unter
Historikern umstritten. Unumstritten ist, dass sich das Gruber-De
Gasperi-Abkommen vom 5. September 1946,
Grundlage für die (weit später erst errungene) Autonomie der „Provincia
autonoma di Bolzano“, dem die
regierenden Parteien sowie der zeitgeistfromme Teil der Opposition in Wien,
Innsbruck und Bozen heute den Rang einer „Magna Charta für Südtirol“
zubilligen, laut Diktum des früheren Bundeskanzklers Bruno Kreisky (SPÖ) für
Österreichs Politik mitunter als „furchtbare Hypothek“ erwies.
Gruber
und De Gasperi
Denn allem Anschein nach fügte sich
der österreichische Außenminister Karl Gruber seinerzeit in Paris ebenso seinem
italienischen Gegenüber Alcide De Gasperi
wie den drängenden Siegermächten, um überhaupt etwas mit nach Hause bringen zu können. Es waren
jedoch nicht allein die aus der
(geo)politischen Lage herrührenden Umstände und die Unzulänglichkeiten des
damals zur Friedenskonferenz entsandten
österreichischen Personals sowie das mitunter selbstherrliche Gebaren Grubers
respektive der Druck, den die (west)alliierten Siegermächte auf die Beteiligten ausübten und schließlich
ein anderes als das von den (Süd-)Tirolern erhoffte Ergebnis zeitigten. Eine
soeben abschließend im Grazer Stocker-Verlag erschienene, aus drei voluminösen
Bänden bestehende Dokumentation des
Linzer Zeithistorikers und Publizisten
Helmut Golowitsch zeigt, dass vor und hinter hinter den Kulissen Akteure am Geschehen beteiligt waren.
Fabrikant Rudolf Moser Foto Archiv Golowitsch
Manche, wie insbesondere Rudolf Moser, Leiter der in Sachsenburg (Kärnten) situierten „A. Moser & Sohn, Holzstoff- und Pappenfabrik“, übten demnach einen bisher weithin unbekannten und im Blick auf das von der weit überwiegenden Bevölkerungsmehrheit in beiden Tirol sowie in ganz Österreich erhoffte Ende der Teilung des Landes fatalen Einfluss aus. Mosers lautloses Mitwirken inkognito erstreckte sich nahezu auf den gesamten für den Südtirol-Konflikt zwischen Österreich und Italien bedeutsamen Geschehensablauf vom Kriegsende bis zur sogenannten „Paket“-Lösung Ende der 1960er Jahre, bisweilen lenkte er ihn in bestimmte Bahnen.
Ein Emissär
Der 1901 in Wien geborene und
in der christlich-sozialen Bewegung politisch sozialisierte Moser gehörte als
Industrieller der vornehmlich auf die regierende Österreichische Volkspartei
(ÖVP) stark einwirkenden Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft an. Mit dem
ersten Bundeskanzler Leopold Figl, den er als seinen „engsten Jugendfreund“
bezeichnete, verband ihn, wie er vermerkte, „in
allen Belangen …. stets gegenseitige und vollständige Übereinstimmung und
Treue“.In Italien, wohin seine
Firma gute Geschäftskontakte unterhielt,
hielt sich Moser häufig für länger auf und kam mit
namhaften Persönlichkeiten des Staates ebenso
wie mit katholischen Kreisen und dem Klerus in engen Kontakt. Moser, den auch
Papst Pius XII. mehrmals in Rom
persönlich empfing, wirkte zudem als Vertrauensmann des Vatikans. Insofern
nimmt es nicht wunder, dass sich der die italienische Sprache mündlich wie
schriftlich nahezu perfekt Beherrschende und absolut diskret Agierende nach
1945 geradezu ideal für die Aufnahme,
Pflege und Aufrechterhaltung einer trotz Südtirol-Unbill dennoch äußerst
belastbaren Verbindung zwischen ÖVP und Democrazia Cristiana (DC) eignete, die
sich weltanschaulich ohnedies nahestanden. Dazu passte, dass er sich der Rolle des
(partei)politischen Postillons und verdeckt
arbeitenden Unterhändlers mit geradezu missionarischem Eifer hingab.
Die verkaufte
„Herzensangelegenheit“
Das erste
für das Nachkriegsschicksal der Südtiroler bedeutende und in seiner Wirkung
fatale Wirken Mosers ergab sich im Frühjahr 1946. Während nämlich die
österreichische Bundesregierung offiziell – besonders Kanzler Figl, der in
seiner Regierungserklärung am 21. Dezember 1945 vor dem Nationalrat gesagt
hatte: „Eines aber ist für uns kein
Politikum, sondern eine Herzenssache, das ist Südtirol. Die Rückkehr Südtirols
nach Österreich ist ein Gebet jedes Österreichers“ – die
Selbstbestimmungslösung mittels Volksabstimmung verlangte, die
Außenminister Gruber gegenüber den Siegermächten und dem Vertreter Italiens in
Paris bis dahin einigermaßen aufrecht erhalten hatte, wurde Rom auf der Ebene
parteipolitischer Beziehungen vertraulich darüber in Kenntnis gesetzt, dass
sich Wien gegebenenfalls auch mit einer Autonomielösung anstelle eines
Plebiszits einverstanden erklären könne.
Das Signal dazu gab Figl via Moser, der über
Vermittlung eines Priesters aus Welschtirol
(Trentino) den gebürtigen Trientiner De Gasperi am 3. April 1946 im Palazzo del Viminale, dem Amtssitz des italienischen
Ministerpräsidenten, zu einer
ausgiebigen Unterredung traf.
Dass es dem
Kanzler primär um gutnachbarschaftliche
politische (und wirtschaftliche) Beziehungen Wiens zu Rom sowie vielleicht mehr
noch um freundschaftliche Verbindungen zwischen seiner ÖVP mit De Gasperis
DC zu tun war und dass er damit der
alldem entgegenstehenden Sache Südtirols – wider alle öffentlichen Bekundungen
und Verlautbarungen – schadete, spricht Bände.
Widersprüchliches Gebaren
Dieses
widersprüchliche politische Gebaren sollte sich, wie Golowitsch in Band 1
seiner Dokumentation – Titel „Südtirol –
Opfer für das westliche Bündnis. Wie sich die österreichische Politik ein
unliebsames Problem vom Hals schaffte“; Graz (Stocker) 2017, 607 Seiten; 34,80
€ – zeigt, unter allen auf Figl folgenden ÖVP-Kanzlern bis in die für das
österreichisch-italienische Verhältnis äußerst schwierigen 1960er Jahre
fortsetzen, unter der ÖVP-Alleinregierung unter Josef Klaus ihren
Kulminationspunkt erreichen und darüber
hinaus – wie man als Beobachter späterer Phasen hinzufügen muss – gleichsam
eine politische Konstante bilden, der in aller Regel die beanspruchte
Schutz(macht)funktion Österreichs für
Südtirol untergeordnet worden ist. Allen damals führenden ÖVP-Granden stand Rudolf Moser als emsig
bemühtes, lautlos werkendes und wirkendes Faktotum zur Seite:
Sei es als Organisator konspirativ eingefädelter Spitzentreffen inkognito –
mehrmals in seinem Haus in Sachsenburg – , sei es als Emissär, mal als besänftigender Schlichter, mal als
anspornender Impulsgeber. Mitunter war
er verdeckt als Capo einer geheimen
ÖVP-Sondierungsgruppe unterwegs oder auch gänzlich unverdeckt als Mitglied
einer offiziellen ÖVP-Delegation auf
DC-Parteitagen zugegen. Und nicht selten nahm er die Rolle eines
Beschwichtigers von ÖVP-Politikern und -Funktionären wahr.
Geheime
Treffen
So regte er eine
geheime Begegnungen Figls mit De Gasperi
im August 1951 im Hinterzimmer eines Gasthauses am Karerpass in Südtirol
an, wohin der in Matrei (Osttirol) sommerfrischende österreichische und der in
Borgo (Valsugana) urlaubende italienische Regierungschef reisten, um sich „auf halbem Wege“ und „nach außen hin zufällig“ zu
treffen. Über Inhalt und Ergebnis,
worüber es keine Aufzeichnungen gibt – und weiterer konspirativer Begegnungen
mit anderen Persönlichkeiten – wurden weder
Süd- noch Nordtiroler Politiker informiert. Während des gesamten Zeitraums, für die
Golowitschs Dokumentation steht, agierten ÖVP-Kanzler und
ÖVP-Parteiführung unter gänzlichem Umgehen der dem südlichen
Landesteil naturgemäß zugetanen Tiroler ÖVP. Das ging sogar so weit, dass der
legendäre Landeshauptmann Eduard
Wallnöfer wegen „wachsender Unstimmigkeiten mit der Wiener Parteizentrale“
– insbesondere während der Kanzlerschaft des Josef Klaus, zu dem er ein „unterkühltes
Verhältnis“ hatte – ernsthaft eine
„Unabhängige Tiroler Volkspartei“ (nach Muster der bayerischen CSU) in
Erwägung zog. Indes war der aus dem
Vinschgau stammende Wallnöfer – nicht
allein wegen der Südtirol-Frage, aber vor allem in dieser Angelegenheit – dem Außenminister und nachmaligen Kanzler Bruno Kreisky (SPÖ) ausgesprochen freundschaftlich
verbunden.
Als der Nordtiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (Foto) erkennen musste, dass die Tiroler ÖVP von der Wiener Parteizentrale in Südtirol-Angelegenheiten ständig übergangen wurde, erwog er eine Abspaltung der Landespartei von der „Mutterpartei“ nach CSU-Vorbild. Foto: Archiv Golowitsch
Beim zweiten Geheimtreffen Figls mit De Gasperi am 18. und
19. August 1952 sorgte Moser, der es arrangiert hatte, eigens dafür, den italienischen Regierungschef inkognito über den Grenzübergang Winnebach
nach Osttirol zu schleusen und von dort aus auf sein Anwesen in Sachsenburg
(Bezirk Spittal/Drau) zu geleiten. Während zweier Tage unterhielten sich De Gasperi und Figl bei
ausgedehnten Spaziergängen unter vier Augen; niemand sonst war zugegen.
Moser (links im Bild) begrüßt De Gasperi (rechts) anlässlich eines Geheimtreffens mit Figl vor seinem Haus in Sachsenburg. Foto Archiv Golowitsch
Spaziergänge in Sachsenburg: De Gasperi (links) und Figl Foto Archiv Golowitsch
In einem späteren Rückblick,
angefertigt zu Weihnachten 1973, vermerkte
Moser: „Seit 1949 gab es in meinem
Kärntner Landhaus gar viele Zusammenkünfte, Besprechungen, Beratungen und
Konferenzen, aber nicht selten wurden auch in fröhlichem Zusammensein
weitreichende Beschlüsse gefaßt. Im Gästebuch dieses ,Hauses der Begegnung‘,
wie es vielfach genannt wurde, gibt es von den delikaten Besuchen fast
keinerlei Eintragungen, weil ja jedwede Dokumentation vermieden werden sollte.“
Nach
De Gasperi, mit dem sich Moser bis zu dessen Tod 1954 noch oft
freund(schaft)lich austauschte, wechselten in Italien die Regierungschefs beinahe
jährlich; bis 1981 war das Amt des „Presidente del Consiglio dei Ministri“ sozusagen
ein „Erbhof“ der DC. Bis zum Abschluss des Südtirol-Pakets 1969 unter
Mario Rumor, der zwischen 1968 und 1970 drei wechselnden, DC-geführten und
dominierten (Koalitions-)Regierungen vorstand, hatten sieben DC-Regierungschefs
14 Kabinetten vorgestanden. Mit allen pflegte(n) Moser (und die ÖVP) mehr oder weniger enge Kontakte. Zu Mario
Scelba, der später traurige Berühmtheit
erlangte, weil unter seiner Billigung
1961 in Carabinieri-Kasernen politische
Häftlinge aus den Reihen des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS) gefoltert
worden waren und er als damaliger
Innenminister den Folterknechten
dazu „freie Hand“ („mani libere“)
gelassen hatte, waren sie ebenso intensiv wie zu Fernando Tambroni, Antonio
Segni, Amintore Fanfani und Aldo Moro. 1962 hatte Moser ein geheimes Treffen zwischen dem
stellvertretenden DC-Generalsekretär Giovanni Battista Scaglia sowie der
DC-Fraktionsvizechefin Elisabetta
Conci und ÖVP-Generalsekretär Hermann Withalm
sowie Außenamtsstaatssekretär Ludwig Steiner eingefädelt, das in seinem
Beisein am 12. Mai in der am Comer See gelegenen „Villa Bellini“ der
mit ihm befreundeten Papierfabrikantin
Anna Erker-Hocevar stattfand. Einmütiger
Tenor des Treffens: Südtiroler „Friedensstörer“ seien „gemeinsame Feinde“ und als solche „unschädlich zu machen“.
Mosers Engagement ging so weit, dass er sich nicht
scheute, daran mitzuwirken, hinter dem Rücken des damaligen Außenminister
Kreisky (SPÖ) sozusagen „christdemokratische Geheimdiplomatie“ zu betreiben und
dessen mit Giuseppe Saragat ausgehandeltes „Autonomie-Maßnahmenpaket“ zu desavouieren, welches die Südtiroler
Volkspartei (SVP) dann auch am 8. Januar 1965
für „zu mager“ befand und infolgedessen verlangte, es müsse
nachverhandelt werden. Schon am 6. Januar 1962
hatte er in einer an zahlreiche ÖVP-Politiker und -Funktionäre
verschickten „Südtirol-Denkschrift“ bemerkt, Kreisky betreibe „eine dilettantisch geführte Außenpolitik.“ Das bezog sich just auf den seit den
verheerenden Auswirkungen des Gruber-De Gasperi-Abkommens ersten erfolgreichen Schritt der Wiener Südtirol-Politik, nämlich der Gang
Kreiskys 1960 vor die Vereinten Nationen. Die Weltorganisation zwang
mittels zweier Resolutionen Italien zu „substantiellen Verhandlungen zur
Lösung des Streitfalls“ mit Österreich, womit der Konflikt zudem internationalisiert und der
römischen Behauptung, es handele sich um eine „rein inneritalienische
Angelegenheit“, die Grundlage entzogen worden war.
Josef Klaus
beugt sich römischem Druck
Der
italophile Moser ist nicht selten als
politischer Stichwortgeber auszumachen, wenn es um den Versuch der in Wien
Regierenden – insbesondere der von der ÖVP gestellten Bundeskanzler der ersten 25 Nachkriegsjahre – ging, sich
des mehr und mehr als lästig empfunden Südtirol-Problems zu entledigen. Dies
trifft in Sonderheit auf die „Ära Klaus“ zu. Rudolf Moser fungierte just in der Südtirol-Causa
als dessen enger Berater und wirkte, wie stets zuvor, als graue Eminenz. Die Regierung Klaus ließ sich – von Rom in
der von Wien angestrebten
EWG-Assoziierung massiv unter
Druck gesetzt – auf (verfassungs)rechtlich äußerst fragwürdige (bis
unerlaubte) Händel ein, so beispielsweise auf die auf sicherheitsdienstlicher Ebene mit
italienischen Diensten insgeheim verabredete Weitergabe polizeilicher
Informationen über Südtiroler, obwohl dies für politische Fälle unzulässig war.
Das Wiener Justizministerium und die für Rechtshilfe zuständigen Institutionen
wurden dabei kurzerhand übergangen. Für all dies und einiges mehr gab Klaus,
der hinsichtlich der Südtirol-Frage offensichtlich ähnlich dachte wie sein
deklarierter Freund Rudolf Moser, Forderungen der italienischen Seite
bereitwillig nach. Moser hatte alles getan, um sowohl 1965 in Taormina, wo ein
UECD-Kongress stattfand, als auch im Sommer 1966 ein geheimes Treffen in
Predazzo, wohin Klaus im Anschluss an seinen üblichen Urlaub (in Bonassola an
der Ligurischen Küste) reiste, mit Aldo Moro zustande zu bringen.
Josef Klaus (ÖVP) und Aldo Moro (DC) 1965 in Taormina Foto: Archiv Golowitsch
Aus
dem Dunkel ans Licht
Mosers konspiratives Wirken endete
1969/70. Bevor er sich als Pensionist
aufs Altenteil in seine Geburtsstadt
Wien zurückzog, hinterließ er seine gesamten Aufzeichnungen, Dokumente und
Photographien einem Kärntner Nachbarn.
Begünstigt von einem glücklichen Zufall war es
Helmut Golowitsch gelungen,
an den zeitgeschichtlich
wertvollen Fundus zu gelangen, in den zuvor noch nie ein Historiker ein Auge geworfen
hatte.
Aus dem Moser-Nachlass Fotos Archiv Golowitsch
Ergänzt durch Material aus dem im
niederösterreichischen Landesarchiv verwahrten Nachlass Figls sowie durch einige Dokumente aus dem
Österreichischen Staatsarchiv und dem Tiroler Landesarchiv hat er ihn umsichtig
aufbereitet, ausgewertet und im 1. Band
seiner voluminösen Dokumentation publiziert, worin er die für die Geschehenserhellung
brisantesten Notizen Mosers erfreulicherweise faksimiliert wiedergibt. Alle
Moser’schen Dokumente hat Golowitsch
zudem zu jedermanns Einblick und Nutzung dem Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA)
übergeben. Aufgrund des zutage Geförderten scheint dem Rezensenten indes der
Gedanke nicht ganz abwegig zu sein, dass es sich in Moser um einen
italienischen Einflussagenten gehandelt haben könnte. Anhand womöglich vorhandener
einschlägiger sicherheitsdienstlicher Befunde ad personam wäre es interessant zu überprüfen, ob und wie ihn etwa die österreichische Staatspolizei (StaPo) einschätzte.
Ging es Golowitsch in
Band 1 darum aufzuzeigen, wie es Rom gewissermaßen unter Mithilfe aus Wien ermöglicht
wurde, die betrügerische Scheinautonomie
von 1948 zu verfügen und wie das „demokratische Italien“ unter Führung der Christdemokraten
(DC) skrupellos die faschistische
Politik der Entnationalisierung der Südtiroler fortsetzte, so steht in den Bänden 2 – Titel „Südtirol – Opfer geheimer Parteipolitik“; 462 Seiten, 29,90 € – und 3 – Titel „Südtirol – Opfer politischer
Erpressung“; 528 Seiten, 29,90 € – (beide ebenfalls erschienen im
Stocker-Verlag Graz 2019) – das
geheime politische Zusammenspiel zwischen ÖVP und DC sozusagen en Detail im Mittelpunkt. Dies samt und sonders während
der für den hauptsächlich vom „Befreiungsausschuß Südtirol“ (BAS) mit anderen
als „nur“ politischen Mitteln von Mitte der 1950er bis Ende der 1960er Jahre
und gelegentlich darüber hinaus getragenen Freiheitskampf. Hierin zeigt Golowitsch Punkt für Punkt die – ja, man muss
es in aller Deutlichkeit vermerken – Ergebenheitspolitik
der ÖVP(-geführten respektive Allein-)Regierung(en) gegenüber Italien anhand
getroffener geheimer Absprachen zwischen ÖVP- und DC-Politikern und unter
gezielter Umgehung staatlicher Institutionen sowie insbesondere Außenminister
Kreiskys (SPÖ) auf.
Die römische Politik stand damals unter
wachsendem Druck des BAS, dessen in
Kleingruppen operierende Aktivisten
Anschläge auf italienische Einrichtungen in Südtirol, vornehmlich
Hochspannungsmasten, verübten. Trotz Massenverhaftungen und Folterungen von gefangenen
BAS-Kämpfern in den Carabinieri-Kasernen wurden die italienischen Behörden
dieser Bewegung nicht Herr. Innenminister Mario Scelba (DC), Gebieter über die
Folterer, sah sich unter dem Druck der
Ereignisse zur Einsetzung einer mehr oder minder paritätisch besetzten Studiengruppe zur Erarbeitung einer verbesserten Autonomie
für den 1948 absichtlich in die vom italienischen Ethnicum majorisierte Region Trentino-Alto Adige
gezwängten südlichen Teil Tirols gezwungen
. Die mit der Kommissionstätigkeit verbundene römische Absicht, deren Tätigkeit
allmählich einschlafen zu lassen, war angesichts der trotz vieler nach der
„Feuernacht“ 1961 verhafteten und verurteilten Freiheitskämpfer fortgesetzten Tätigkeit von aus Österreich
operierenden BAS-Aktivisten indes zum Scheitern verurteilt gewesen.
Rom erpresste infolgedessen Wien mit
dem Einlegen seines Vetos gegen die anstehende EWG-Assoziierung Österreichs, indem es
verlangte, in enger Zusammenarbeit mit
den italienischen Sicherheitsdiensten den Südtiroler Widerstand zu brechen und
gänzlich zu eliminieren. Dem diente ein angeblicher BAS-Anschlag am 25. Juni 1967 auf der
Porzescharte, einem Gebirgsgrenzübergang zwischen Osttirol und der Provinz
Belluno, der laut offizieller Darstellung
Roms vier Italienern den Tod gebracht haben sollte. Am 29. Juni erklärte die italienische Regierung, Rom werde sich dem Beginn von EWG-Verhandlungen mit Wien so
lange widersetzen, wie das Hoheitsgebiet Österreichs als „Zufluchtsstätte für
Terroristen“ diene. Woraufhin die ÖVP-Alleinregierung unter Kanzler Klaus in Südtirol-Fragen zunehmend auf italienischen Vorstellungen einschwenkte.
Konstruierter
„Tatort“ und fragwürdige Justizverfahren
Aufgrund überzeugender Archivstudien
und Analysen des (Militär-)Historikers Hubert Speckner sowie dreier Gutachten öffentlich bestellter
und vereidigter Spreng(mittel)sachverständige
besteht heute kein ernstzunehmender Zweifel mehr daran, dass die offizielle
Geschehensdarstellung für das „Porze-Attentat, das keines war“, als Konstrukt
italienischer Dienste gelten muss. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit mussten
aufgrund eines von einem bei einer
Verminungsübung des italienischen Militärs
auf dem nicht weit entfernten Kreuzbergsattel hervorgerufenen Unfalls
die dortigen Toten dazu herhalten, Opfer eines vorgetäuschten BAS-Anschlages an
einem eigens konstruierten und
präparierten Tatort zu sein. Golowitsch breitet Speckners Erkenntnisse in einer
eingängigen Dokumentation noch einmal
minutiös und detailreichen vor uns aus. Und schildert vor allem die folgenreiche
Entwicklung. für die aufgrund von erfolterten „Geständnissen“ zweier in Bozen
inhaftierter österreichischer Verbindungsstudenten des „mörderischen Anschlags auf der
Porzescharte“ von Italien beschuldigten und daher in Österreich inhaftierten BAS-Leute der „Gruppe
Kienesberger“. Fatal war für Dr. Erhard Hartung, Peter Kienesberger und Egon
Kufner), dass sich am 5. Juli 1967 die
österreichische Bundesregierung dem
italienischen Druck beugte und – wider den parteilosen Justizminister, Univ.-Prof.
Dr. Hans Klecatsky, der stets von einer „italienischen Manipultion“ überzeugt
war – die italienische Version des
Geschehens als zutreffend akzeptierte.
Den Beschuldigten wurde im Dezember 1968 der Prozess gemacht. Das österreichische Innenministerium, ja die Republik selbst, spielte dabei eine mehr als fragwürdige Rolle. Dem Gericht wurden wesentliche Beweismittel vorenthalten. Es lagen ihm weder Blutgruppenbe-stimmungen noch Obduktionsbefunde respektive Todesscheine vor, aus denen Näheres über die genaue Todesursache und deren Zustandekommen hätte festgestellt werden können. Anwaltliche Beweisanträge wurden abgelehnt. Ein hoher Sicherheitsbeamter machte darüber hinaus auch noch eine Falschaussage und verschwieg dem Gericht die dem Innenministerium vorliegenden gegenteiligen Augenzeugenberichte zum „Tatort“ auf der Porzescharte. Es kam zu einer erstinstanzlichen Verurteilung. Der Oberste Gerichtshof hob dieses Urteil jedoch auf, und in zweiter Instanz konnte die Verteidigung anhand von Sachverständigengutachten nachweisen, dass die Tat in dem zur Verfügung stehenden Zeitraum von den Angeklagten nicht hatte begangen werden können. Im Mai 1971 kam es zum endgültigen Freispruch in Österreich.
Einvernahme des Beschuldigten Kienesberger im Wiener Porzescharte-Prozess 1961 Foto Archiv Golowitsch
Nicht hingegen in Italien, wo in
Florenz ein Gericht Hartung und Kienesberger zu lebenslänglicher, sowie Kufner
zu 24 Jahren Haft verurteilte. Verfahren und Urteil, die von deutschen und
österreichischen Höchstgerichten als wider die Menschenrechtskonvention verstoßend
erklärte, da die Angeklagten weder anwesend, noch durch Anwälte vertreten
waren, sind noch immer inkraft und würden die sofortige Inhaftierung für
Hartung und Kufner – Kienesberger ist 2015 verstorben – bedeuten, sofern sie die Grenze zu Italien
überschritten.
Von Italien Abhilfe zu erwarten,
scheint ausgeschlossen; seit Antonio Salandra (Regierungschef von März 1914
bis Juni 1916) folgen alle römischen
Polit-Onorevoli, ob links oder rechts, dessen Maxime des „Sacro egoismo“
(„Heiliger Eigennutz“). Seine Geheimdienst-Archive öffnet es – secreto die stato – nicht, es könnten ja viele manipulierte „Wahrheiten“ ans Licht
kommen, die man lieber im Dunkeln belässt.
Peppino Zangrando, als
Präsident der Belluneser Anwaltskammer von hoher Reputation, stellte schon 1994
in der „Causa Porzescharte“, in der er jahrelang recherchiert hatte, ein
Attentat des BAS in Abrede. Er wollte damals schon den Fall neu aufrollen, sein
Wiederaufnahmeantrag scheiterte indes an der Staatsanwaltschaft.
Erlittenes Unrecht
Was folgt aus all dem, was Golowitsch in drei
ansprechend komponierten Dokumentations- und Dokumentenbänden eindringlich vor
uns ausbreitet? Der BAS hat 1967 auf der Porzescharte kein Attentat verübt. Die
dafür verantwortlich gemachten Personen (Prof. Dr. med. Erhard Hartung, Egon
Kufner sowie der bereits verstorbene Peter Kienesberger) sind zu Unrecht
verfolgt und von Italien zu gewissenlosen Terroristen gestempelt worden. Mehr als ein halbes
Jahrhundert nach dem Geschehen, das sich offenkundig anders denn offiziell
dargestellt abspielte, wäre es an der Zeit, das florentinische Schandurteil aus
der Welt zu schaffen, mit denen sie gänzlich wahrheits- und rechtswidrig für
eine offenkundig nicht begangene Tat verurteilt und damit zu blutrünstigen Mördern gestempelt worden sind. Es versteht
sich daher eigentlich von selbst, dass die trotz Freispruchs (in Österreich)
nach wie vor mit dem Makel der Täterschaft behafteten und in ihrer persönlichen
(Reise-)Freiheit eingeschränkten Personen endlich offiziell und überdies
öffentlich vernehmlich zu rehabilitieren sind.
Leisetreter am Ballhausplatz
Ein aus dem Österreichischen Nationalrat
(Parlament) heraus an den damaligen Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ)
gerichteter dahingehender Versuch des FPÖ-Abgeordneten Werner Neubauer vom 17.12.2013
erwies sich als ergebnislos. Faymann gab sich in seiner schriftlichen Antwort
vom 17.02.2014 (GZ: BKA-353.110/0008-I/4/2014) auf Neubauers umfangreichen Fragenkatalog
ahnungslos – sowohl gegenüber den Erkenntnissen aus Speckners
Forschungsergebnissen, als auch gegenüber Fragen nach eventuell vorliegenden
Unterlagen zur „Intervention des Kanzlers Klaus bezüglich der Prozessführungdurch den Richter Dr. Kubernat im Dezember 1968 beim
Landesgerichtspräsidenten“. Und in allen anderen Fragen erklärte
Faymann das Kanzleramt für unzuständig.
Auch an das österreichische Staatsoberhaupt
gerichtete Anfragen erwiesen sich letztlich als nicht zielführend. Der damalige
Bundespräsident Dr. Heinz Fischer hatte zwar, „Auftrag gegeben, dieses
Buch eingehend zu studieren. Erst nachher wird die Beurteilung der Frage möglich
sein, ob sich über den bisher schon bekannten Sachverhalt hinaus neue
Gesichtspunkte in dieser Angelegenheit ergeben“, wie er am 28.August
2013 an den „sehr geehrten Herrn Klubobmann des Freiheitlichen
Parlamentsclubs, Abg. z. NR Heinz-Christian Strache, FPÖ
Bundesparteiobmann“ schrieb.Doch am 7. Februar 2014 teilte er diesem mit: „Wie ich in meinem
Schreiben vom 28. August 2013 inAussicht gestellt habe, wurde dieses
Buch von Mitarbeitern der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei durchgelesen.
Ein Beweis dahingehend, dass die vom italienischen Geschworenengericht
verurteilten Personen nicht ,die Täter
gewesen sein konnten‘, ist aus dem Buch
nach Ansicht meiner Mitarbeiter nicht eindeutig abzuleiten. Was mögliche
Begnadigungen anlangt, darf ich auf die Ihnen bekannten, bisher schon gesetzten
Schritte hinweisen. Ich werde dieses Thema bei geeigneten Gelegenheiten auch in
Zukunft im Auge behalten.“
Auf neuerliches Nachsetzen des Abgeordneten
Neubauer (Schreiben vom 1. 12. 2014) ließ Fischer am 12.12. 2014 seinen
„Berater für europäische und internationale Angelegenheiten“,
Botschafter Dr. Helmut Freudenschuss, antworten (GZ S130040/221-IA/2014). Darin
hieß es, es gehe „nicht um die Bewertung desBuches, sondern
ausschließlich darum, ob die darin enthaltenen Ausführungen über die bereits
gesetztenSchritte hinaus eine weitere Intervention gegenüber den
italienischen Organen nahelegt. Sie wissen sicher,dass der Herr
Bundespräsident das Thema der Begnadigungen immer wieder – zuletzt am 11.
November2014 – im Gespräch mit dem italienischen Staatspräsidenten zur
Sprache gebracht hat. Die italienischenVorbedingung – nämlich
Gnadengesuche der Betroffenen – ist aber offenbar nicht erfüllbar.“
Unziemliche Empfehlungen und Schande für Österreich
Seit Jahren raten und/oder empfehlen regierende
österreichische Bundes- und Landespolitiker (vornehmlich jene Tirols und
zuvorderst jene von ÖVP und SPÖ), aber auch Politiker des 1919 von Italien
annektierten südlichen Teils Tirols, vorzugsweise jene der Südtiroler
Volkspartei (SVP), „Betroffenen“, deren Taten – seien sie bewiesen oder
unbewiesen; seien sie begangen oder nichtbegangen; seien sie von BAS-Aktivisten
verübt oder diesen durch italienische Manipulationen untergeschoben worden –
bereits ein halbes Jahrhundert und länger zurückliegen, mögen doch bitteschön
Gnadengesuche einreichen. Mit Verlaub – das ist Chuzpe.
Abgesehen davon, dass italienische Staatsoberhäupter längst Terroristen aus den Reihen der „Roten Brigaden“ respektive aus dem rechtsextremistischen Milieu begnadigten, sich bisher aber stets ablehnend gegenüber den letzten verbliebenen Südtirolern, setzt der Gnadenakt für Südtirol deren Gnadengesuch voraus. Alle unrechtmäßig Beschuldigten und zudem menschenrechtswidrig Verurteilten – und um solche handelt es sich bei den Dreien der „Causa Porzescharte –, wären doch von allen guten Geistern verlassen, so sie um Gnade bettelten für eine Tat, die sie nicht begangen haben. Dass indes maßgebliche Organe der Republik Österreich, die sich damals schon hasenfüßig und Italien gegenüber unterwürfig verhielten, auch 50 Jahre danach noch ihrer Fürsorgepflicht für zwei ihrer jahrelang politisch und justitiell verfolgten Staatsbürger (offenkundig) nicht nachkommen (wollen), darf man mit Fug und Recht eine Schande nennen.
Eine Schande für die österreichische
Politik war es auch, die von Rom unter ständigen
Hinweisen auf das EWG-Veto verlangte „Präventivhaft“ – wie sie in Italien auf
der Grundlage fortbestehender faschistischer Rechtsnormen möglich war – über geflüchtete Südtiroler zu verhängen und sogar
deren Auslieferung zu verlangen,
füglich zu umgehen. Weil sich besagter parteifreier Justizminister
Klecatsky unter Hinweis auf die österreichische
Rechtsordnung dem im Ministerrat allen
Ernstes vorgetragenen Ansinnen anderer entschieden entgegentrat, womit die
Sache formell erledigt war, hatte man
jedoch im Wiener Innenministerium einen Rom entgegenkommenden Ausweg erdacht: Die
von den italienischen Stellen namhaft
gemachten Südtiroler wurden kurzerhand in
Schubhaft genommen. Gelang es diesen Schubhäftlingen trotz enormer Schwierigkeiten, eine gerichtlich verfügte Aufhebung ihrer
Inhaftierung zu erreichen, sperrte man sie unter einem neuen Schuldvorwurf wieder ein.
Derartige und andere unschöne Vorgehensweisen stehen in Golowitschs drittem
Band im Zentrum. Dazu gehört samt und sonders die politische Preisgabe einer
fundamentalen, auf internationalem Recht
fußenden Absicherung des Südtiroler
Autonomie- „Pakets“. Und dazu gehört nicht zuletzt die dokumentarisch belegte
Schilderung von Winkelzügen, die im diplomatischen Hintergrund, somit im
Geheimen (also der Öffentlichkeit und den Südtirolern als Betroffenen verborgen
bleibend) abliefen und politische Händel
ermöglichten.
Dr. Bruno Hosp war als junger Student
mit führenden BAS-Kämpfern wie beispielsweise Jörg Klotz und Luis Amplatz
befreundet. Hosps Wort ist auch aufgrund langjähriger Mitwirkung an der politischen Gestaltung
Südtirols in der „Paket- und Nachpaket-Ära“
– als SVP-Landesparteisekretär
unter Silvius Magnago; sodann viele Jahre Landesrat für deutsche und ladinische
Kultur sowie Denkmalpflege; sohin auch
als Zeitzeuge aus der Erlebnisgeneration
– von Gewicht. In seinem von persönlichen Erfahrungen geprägten und von den
jüngeren zeitgeschichtlichen Forschungsergebnissen beeinflussten Geleitwort „Südtirolpolitik mit Makeln“ zu Golowitschs drittem Band stellt er sich und
allen Betroffenen sowie Interessierten die Frage: „Wie sah die österreichische Südtirolpolitik jener Jahre wirklich aus?“
Räsonierend beantwortet er sie: „Generell vermisst man das österreichische
Selbstbewusstsein gegenüber dem italienischen Staat, der seinerseits ,Freundschaft‘ gegenüber Österreich im Falle Südtirols meist
vermissen ließ. Es ist eine weiterwirkende politische Konstante. Die
österreichische Konstante dagegen ist die Grundtendenz, lieber Wohlverhalten zu
zeigen als strategisch-entschlossene Politik im Landesinteresse, zu dem
auch Südtirol zählt, zu betreiben.“
Bruno Hosp und der mit ihm befreundete Freiheitskämpfer Jörg Klotz Foto (1965) privat
Ernüchternd fährt der ernüchterte Hosp
fort: „Der unvoreingenommene Leser der Darstellung
von Helmut Golowitsch kommt nicht umhin festzustellen, dass die Südtirolpolitik
der ÖVP und der Regierung Dr. Josef Klaus in ihrer Grundorientierung zwar
Südtirol helfen wollte, doch der Wunsch Österreichs nach dem Beitritt zur EWG zu
oft sehr peinlichen Unterwerfungsgesten gegenüber der italienischen Staatsmacht
im Allgemeinen und der Democrazia Cristiana (DC) mit ihrer
zentralistisch-nationalistischen Ausrichtung im Besonderen führte. Dies wurde
Südtirol natürlich verheimlicht. Eingestanden hat man es bis heute nicht. Das
viel beschworene ,Herzensanliegen Südtirol‘ blieb in seiner politischen Ausrichtung
oft halbherzig. Man wollte alles für Südtirol tun, aber zugleich nichts, was
die italienische Staatsmacht störte. Die Regierung in Wien umging auch oft
genug das Bundesland Tirol, dessen Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (ÖVP), sein
Stellvertreter Dr. Hans Gamper (ÖVP), Landesrat Rupert Zechtl (SPÖ) und einige andere
herausragende politische Persönlichkeiten stets strategisch- konsequent
Südtiroler Lebensinteressen vertraten. Die Regierung Dr. Josef Klaus umging
aber auch ihren SPÖ-Außenminister Dr. Bruno Kreisky, der diplomatisch-weitsichtig
und kämpferisch-unbeugsam für Südtirol eintrat, die Südtirolfrage vor die UNO
brachte und in seiner Zeit als Bundeskanzler wohlbedacht keine Anstalten
machte, den zweifelhaften IGH-Vertrag zu ratifizieren.“
Diesen Feststellungen Hosps ist
uneingeschränkt zuzustimmen, weshalb der Rezensent zu seiner Schlussfolgerung
gelangt: Historische Forschung ist stets
ein Ringen um Wahrheitssuche, und
Geschichtsschreibung ist ausschließlich der Wahrheit verpflichtet, nicht
einer Ideologie, einem sogenannten „erkenntnisleitenden Interesse“, welches
direkt zu einer mitunter staatlichen Interessen entsprechenden Geschichtspolitik
führt: Wie sie heutzutage nicht selten
unter der Vorgabe, allein „dem Humanen verpflichtet“ zu sein, die Regel statt die Ausnahme ist. Und
worunter das unbestechliche Urteil leidet. Geschichtsforschung und -schreibung
hat jedweder Versuchung zu widerstehen, aus berufspolitischem oder akademischem
Opportunismus oder beidem, bisweilen gepaart mit Sendungsbewusstsein und/oder
Eiferertum, (politisches,
wirtschaftliches, soziales, gesellschaftliches) Geschehen anders zu schildern als es wirklich war und zu
bewerten, wie es politischer Korrektheit Zeitgeist und Mainstream frommt.
Helmut Golowitschs dreibändige historisch-politische Dokumentation zur Südtiroler Zeitgeschichte folgt den Maximen von Wahrheit und Gerechtigkeit, zeigt auf, was andere ignorier(t)en und/oder (un)bewusst ausblende(te)n. „Jeder wahrheitsbewusste und weltoffene österreichische Patriot und jeder Südtiroler, der sich aus guten Gründen als Österreicher fühlt, wird das Vaterland Österreich nicht weniger lieben, wenn erunverfälscht die ganze Wahrheit erfährt, wie die österreichischen Regierungen jener Jahre es mit Südtirol wirklich hielten. Vaterlandsliebe, die die Wahrheit nicht ausblendet, wird sich vielmehr mit einem sehr nüchternen Sinn verbinden, der zur politischen Klarsicht befähigt“, schreibt Hosp zurecht. Golowitschs quellengesättigte Tatsachenschilderung und seine Beschreibung der Zusammenhänge in drei ins sich geschlossenen und mit unzähligen Originaldokumenten angereicherten Bänden führen zu einer notwendigen vertieften, korrigierenden Sicht auf die österreichischen Südtirolpolitik, der weite Verbreitung zu wünschen ist.