Wie unzählige Male zuvor schon „zur Verteidigung der Einheit des Vaterlandes Italien“ rückte im Juni 2014 die Bozner Staatsanwaltschaft aus, begleitet von Männern der ROS (Raggruppamento Operativo Speciale), einer Sondereinheit der Carabinieri zum Kampf gegen die Organisierte Kriminalität. Am Sitz der Partei Süd-Tiroler Freiheit (STF) beschlagnahmte das römische Machtinstrument Computerdateien und schriftliche Unterlagen. Der vorgegebene Grund für die staatsanwaltschaftliche Ermittlung und das auf Abschreckung und Einschüchterung zielende martialische Einschreiten der dem Militär unterstehenden kasernierten Polizeitruppe: Verdacht der Unterschlagung und einer Manipulation. Im Spätsonner 2013 hatte die STF mehr als 400.000 Briefe verschickt und dabei den für den Versand von Wahlwerbung beanspruchten üblichen vergünstigten Tarif von 0,04 Euro pro Briefsendung entrichtet. In den Briefen befanden sich Wahlkarten zur Teilnahme an dem von der STF im Herbst 2013 initiierten und durchgeführten Selbstbestimmungs-Referendum für Südtirol. Knapp ein Jahr später warf die Staatsanwaltschaft der Partei neben „Missbrauch der Posttarife“ – angebliche „Betrugssumme“ 600.000 Euro – „Manipulation des Abstimmungsergebnisses“ vor.
Diese Vorwürfe sind absurd. Die Unterlagen für das Selbstbestimmungs-Referendum wurden vor der Südtiroler Landtagswahl verschickt, die im Oktober 2013 stattfand. In der plausiblen Absicht, die Selbstbestimmungsfrage zu einem zentralen Wahlkampfthema zu erheben, worauf in allen STF- Stellungnahmen unmissverständlich hingewiesen wurde. Die Briefe wurden von der Postverwaltung vorab begutachtet und ausdrücklich genehmigt, sie mussten als Wahlwerbung deklariert werden. Wäre dies nicht rechtens gewesen, hätte die Post die Briefe nicht verschickt, und die Bozner Staatsanwaltschaft hätte bereits damals umgehend alle Briefe beschlagnahmt. Absurd auch der Manipulationsvorwurf: Selbstverständlich war die Abstimmung geheim, alle an die STF als Veranstalter zurückgelangten Briefe sind getrennt von den Wahlkarten ausgezählt worden, sodass die Absender nicht rückverfolgbar waren. Die Auszählung fand öffentlich, zudem im Beisein von Journalisten, statt, die somit die Wahrhaftigkeit der befolgten Abstimmungsmodalitäten bezeugen können, welche unter
https://www.youtube.com/watch?v=GlEVNTfpYRI
einsehbar sind.
Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, welches in ein Strafverfahren gegen eine Partei mündet, geschieht nicht zufällig, sondern stellt einen politisch motivierten Schlag gegen die STF mit dem Ziel dar, das von ihr nachdrücklich ins öffentliche Bewusstsein gerückte Selbstbestimmungsbegehr nachträglich zu kriminalisieren. Es dürfte sich nicht um ein aus eigenem Antrieb ( des leitenden Staatsanwalts Guido Rispoli) heraus eingeleitetes Vorgehen gehandelt haben, sondern auf einen Wink aus Rom hin geschehen sein. Dort ist die politische Klasse mehr als besorgt über Selbstbestimmungsbewegungen wie jene in Südtirol, hinter der nicht alleine die STF und die Freiheitliche Partei Südtirols (FPS) stehen, sondern auch der traditionsreiche Südtiroler Schützenbund (SSB). Immerhin führt auch die seit 1948 regierende Südtiroler Volkspartei (SVP) das Selbstbestimmungsverlangen noch in ihrem Parteistatut, und wiewohl sie weiter als alle anderen Südtiroler Parteien davon entfernt ist, die Selbstbestimmungsfrage aufzuwerfen, kann sich Rom dessen nicht wirklich sicher sein.
Gefahr droht auch aus der Nachbarschaft Südtirols. So fand die staatsanwaltschaftlich angeordnete Razzia bei der STF vier Tage nach dem mehrheitlichen Beschluss des Regionalrats von Venetien statt, für das Veneto ein formelles Selbstbestimmungs-Referendum anzusetzen. Dort hatten im Frühjahr in einem Online-Referendum zum Thema Unabhängigkeit Venetiens, an dem sich 2,36 Millionen Wahlberechtigte (73 Prozent der Wählerschaft der Region) beteiligten, 89 Prozent auf die Frage „Willst Du, dass die Region Veneto eine unabhängige und souveräne Republik wird?“, mit einem klaren „Ja“ geantwortet. Woraufhin die Staatsanwaltschaft in Brescia auf Geheiß Roms kurzerhand unter dem Vorwurf des „geplanten bewaffneten Umsturzes und der Sezession“ führende Funktionäre der Unabhängigkeitsgruppierungen „Raixe Venete“, „Liga Veneta“, „Governo Veneto“ und „Nasion Veneta“ festsetzte und/oder Gerichtsverfahren gegen sie einleitete. Davon unbeeindruckt ergriff in unmittelbarer Nachbarschaft zum Veneto Lega Nord-Chef Matteo Salvini die Initiative für „ein offizielles Unabhängigkeitsreferendum“ in der Lombardei.
Hatten in Südtirol am eindrucksvollen Referendum im Herbst 2013, initiiert und organisiert von der STF, 61.189 Wahlberechtigte aus der deutschen und aus der ladinischen Volksgruppe teilgenommen, von denen 56.395 – das sind 92,17 Prozent – für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts votierten, so zeigte eine von der Wiener „Karmasin Motivforschung“ durchgeführte Umfrage unter 700 Befragten deutscher und ladinischer Muttersprache in Südtirol, dass sich 54 Prozent für eine Unabhängigkeit vom Staat Italien und nur 26 Prozent für den Verbleib bei Italien aussprachen; 20 Prozent machten keine Angabe. Nachgerade sensationell sind überdies die Ergebnisse der von der überparteilichen Bozner „Arbeitsgruppe für Selbstbestimmung“ in Auftrag gegebenen repräsentative Umfrage zu nennen, welche das italienische Meinungsforschungsinstitut DEMETRA aus Mestre (bei Venedig) in ganz Italien durchführte. Demnach befürworteten 71,8 Prozent der befragten Italiener das Recht auf politische Selbstbestimmung der Südtiroler. 74 Prozent sprachen sich zudem ausdrücklich für das Recht von Schotten und Katalanen auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit aus.
All das muss(te) in Rom alle politischen Warnlampen angehen lassen, weshalb das staatsanwaltschaftliche Vorgehen gegen die Südtiroler „Los-von-Rom“-Partei STF seinen Sinn erhielt. Ebenso legen die Brüssler EUrokraten ob mannigfaltiger Selbstbestimmungs- und Unabhängigkeitsregungen die Stirn in Falten, zumal da sie mit Bangen die Entwicklung besonders in Schottland und Katalonien verfolgen. Im Frühjahr 2014 führte ihnen eine machtvolle und farbenprächtige „Selbstbestimmungskundgebung der Völker und Regionen Europas“ die Gefahr vor Augen. Wenngleich in den Mainstream-Medien verschwiegen, nahmen daran gut 25 000 Menschen teil und unterstrichen den Willen von Flamen, Katalanen, Schotten, Basken, Venetern, Lombarden und Südtirolern zur Selbstbestimmung. Ihr Marsch quer durch den EU-Institutionensitz Brüssel unter der Losung „Europe, we will vote!“ signalisierte, dass auf nicht zu unterschätzenden Terrains EUropas Umbrüche hin zu freien, selbstbestimmten und selbstverwalteten neuen Gemeinwesen im Gange sind, organisiert von Repräsentanten volklicher Entitäten, die gewillt sind, sich nicht mehr mit Halbfreiheiten abspeisen zu lassen und also ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Solange die Südtiroler darauf bauen konnten, daß die italienische „Autonome Provinz Bozen-Südtirol“, ihr nach dem Ersten Weltkrieg annektierter Teil des nach sechs Jahrhunderten des Bestands zerrissenen Habsburgerkronlandes, infolge einer Entwicklung hin zu einem „Europa der Regionen“ wieder mit dem österreichischen Bundesland Tirol „vereinigt“ werden könnte, vertrauten sie auf die „Sammelpartei“ SVP, die ihnen das auch für die Zukunft in Aussicht zu stellen sucht. Doch je stärker und je länger offenkundig ist, dass das Nationalstaatsprinzip in der EU allen Regionalisierungsbemühungen Grenzen setzt und ihnen in ihrer Heimat von vom römischen Zentralismus geprägten Italienern und in den staatlichen Behörden von Amtswaltern immer und immer wieder das „Siamo in Italia“ entgegengeschleudert wird, desto zahlreicher werden die Befürworter des Selbstbestimmungsverlangens. Die historisch-politischen Erfahrungen mehrerer Generationen der Angehörigen von deutscher und ladinischer Volksgruppe mit Rom und in Italien (nicht erst, aber vor allem seit dem Ersten Weltkrieg) begünstigten diese Entwicklung. Die Ursachen dafür, dass „BBC“, „Chicago Tribune“, „Russia Today“ und andere Publikationsorgane auf der ganzen Welt schon über den „wiedergekehrten Separatismus im ,Alto Adige’“ berichteten, sollen im folgenden skizziert werden. Dazu ist ein knapp gehaltener
Historischer Exkurs
nötig. Im Zuge der nach-napoleonischen „Neuordnung“ Europas erhob im ähnlich spät wie Deutschland geeinten Italien die Vereinigungsbewegung des „Risorgimento“ (Wiedererstehung) unter dem Schlagwort von den „natürlichen Grenzen an der Hauptwasserscheide“ Anspruch auf territoriale Ausdehnung des 1861 entstandenen Königreichs Italien bis zum Brenner. Einer ihrer Wortführer war Ettore Tolomei, ein autodidaktischer Geograph, der mit an Fanatismus grenzender Beharrlichkeit die Idee der Annexion von Gebieten mit anderssprachiger Bevölkerung trotz der Ablehnung derlei Ansinnes von seiten führender „Irredentisten“ („Erlöser Italiens“ (etwa des Sozialisten Cesare Battisti) verfocht. 1848/49 hatten Volksvertreter aus Trient, damals Teil Tirols, im österreichischen Reichsrat und in der Frankfurter Nationalversammlung Autonomie für den italienischsprachigen Landesteil verlangt. Bald ertönte der Ruf nach „Erlösung“ des „unerlösten, unbefreiten Italien („irredenta Italia“) mittels Angliederung des Trentino. Die Bestrebungen führten trotz längerer parlamentarischer Verhandlungen im Wiener Reichsrat 1902 allerdings nicht zum erwünschten Ergebnis.
Irredentisten und Risorgimentisten hatten erst im frühen 20. Jahrhundert damit Erfolg. Als Italien gemäß dem 1912 mit England geschlossenen Geheimvertrag, in welchem ihm die Gebiete Alttirols südlich des Brenners zugesichert worden waren, zu Beginn des Ersten Weltkriegs neutral blieb, schließlich 1915 den Dreibund verließ und gegen seine früheren Bündnispartner Österreich und Deutschland in den Krieg eintrat, erhielt es gemäß den Pariser Vorortverträgen das handstreichartig nach dem Waffenstillstand annektierte südliche Tirol. Die Versuche der Republik Deutsch-Österreich, Tirol vor der Teilung zu bewahren, scheiterten. Der amerikanische Präsident Wilson, der an die Zusage Londons, Italien werde nach Kriegsende wegen des Seitenwechsels Roms („sacro egoismo“) das Gebiet bis zum Brenner erhalten, nicht gebunden war, stimmte nach längerem Zögern doch der Zerreißung Tirols zu. Im Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye wurde daher zusätzlich zum (mehrheitlich von italienischer Bevölkerung bewohnten) Trentino auch das Gebiet Tirols unterm Brenner Italien zugeschlagen. Wilson hatte sich damit auch mit seinem Anspruch auf Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts gegenüber London und Paris nicht durchsetzen können. Italien erhielt im Friedensvertrag keinerlei Auflage für den Schutz der deutschen und der ladinischen Minderheit. König Viktor Emmanuel sicherte allerdings in seiner Thronrede am 1. Dezember 1919 „den neuen Provinzen sorgfältige Wahrung der lokalen Institutionen und der Selbstverwaltung“ zu. Doch gewährte auch das vorfaschistische Italien den Südtirolern keinerlei autonomen Rechte oder gar politische Selbstverwaltung.
Am 28. Oktober 1922 traten die „Schwarzhemden“ ihren Marsch auf Rom an. Am 29. übertrug der schwache König dem Führer (Duce) der Faschistischen Partei, Benito Mussolini, die Regierungsverantwortung und damit die Macht im Staate. Jetzt war die Stunde Ettore Tolomeis gekommen. Er nahm im Auftrag des Duce, der ihn zum Senator erhob, seinen Sitz in Bozen, errichtete das „Institut für das Oberetsch“ (Istituto per l’Alto Adige), wie Südtirol fortan offiziell hieß, und begann mit der systematischen Italianisierung des Landes. Tolomeis „Programm“ hatte die Entnationalisierung der Südtiroler, die Ansiedlung von Italienern und die Aussiedlung der Südtiroler nach Süditalien zum Inhalt.
In seinen „Provvedimenti per l’Alto Adige“ legte er 32 Maßnahmen fest, mit denen das Entnationalisierungsprogramm greifen und zwischen Brenner und Salurner Klause, zwischen Reschen und Dolomiten zur irreversiblen Italianität, der „ewigen Italianità“, führen sollte. Eine sah das Verbot der Namen „Tirol“ und „Südtirol“ vor sowie aller Substantiv- und Adjektiv-Ableitungen davon vor. So erließ der oberste Staatsvertreter in der Venezia Tridentina, Präfekt Giuseppe Guadagnini, am 8. August 1923 ein Dekret, das bestimmte, dass nur noch die Bezeichnung „Alto Adige“ zugelassen sei und Zuwiderhandlung „nach den Bestimmungen des Artikels 434 des Strafgesetzes bestraft“ würden. Per Dekret wurde später jedweder Unterricht in deutscher Sprache verboten und unter Strafe gestellt. Wer dagegen verstieß, wurde mit Gefängnis belegt oder sah sich auf Strafinseln respektive in abgelegene Orte Siziliens verbannt. Besonders Mutige wie der Kanonikus Michael Gamper stellten sich dem dennoch entgegen, indem sie, als 1925 Italienisch als alleinige Amts- und Verkehrssprache angeordnet worden war, Unterricht in sogenannten „Katakombenschulen“ (Untergrund-Schulen auf abgelegenen Bauernhöfen und auf Almhütten) erteilten. Alle deutschen Beamten wurden entlassen und durch Italiener ersetzt; in jeder Südtiroler Gemeinde bestimmte fortan der „Podestà“, der faschistische Amtsbürgermeister. Tolomei ließ sodann alle Ortsbezeichnungen ins Italienische übertragen und veranlaßte darüber hinaus, daß deutsche Familiennamen, sogar jene auf Grabsteinen, italianisiert wurden. Öffentliche Bekanntmachungen, Wegweiser, Aufschriften, Firmenschilder mußten in italienischer Sprache abgefaßt sein. Damit sollte alles getilgt werden, was auf anderes denn Italianità hinwies; gemäß der ideologischen Vorgabe, es gehe darum, ehedem germanisierten Boden zu re-italianisieren. Alle deutschen wirtschaftlich-sozialen Verbände (der Gewerbetreibenden, der Bauern, die Gewerkschaften) und auch alle deutschen Vereine (Alpenverein, Turnvereine und andere) wurden aufgelöst und gingen ihres Vermögens verlustig. Das in 1200 Jahren gewachsene Deutschtum sollte für alle Zeit aus dem öffentlichen Leben verbannt sein.
Trotz aller Verbote und Anordnungen, trotz der Ansiedlung von Industriebetrieben in der neugeschaffenen Bozner Industriezone und der Umsiedlung italienischer Familien aus Mittel- und Süditalien in den Norden, konnte das „Alto Adige“ nicht in einen „durch und durch italienischen Landstrich“ verwandelt werden. Als der dem Duce wesensverwandte Diktator im Norden, Adolf Hitler, 1938 seine Heimat Österreich an das Deutsche Reich „anschloss“ und Mussolini für seine Kriegsabsichten zum Bundesgenossen zu gewinnen suchte, stand die Südtirol-Frage im Wege. Anläßlich seines Staatsbesuchs in Rom erklärte Hitler in einem Trinkspruch am 7. Mai 1938: „Es ist mein unerschütterlicher Wille und mein Vermächtnis an das deutsche Volk, daß es die von der Natur uns beiden aufgerichtete Alpengrenze immer als eine unantastbare ansieht.“ Mussolini freilich genügte diese feierliche Versicherung noch nicht. Er wollte mit dem Südtirol-Problem endgültig Schluss machen. Zwischen Berlin und Rom wurde daher 1939 ein Abkommen zur Umsiedlung der Südtiroler deutscher Zunge geschlossen – gemäß jenen Bekundungen, das Südtirol-Problem in der Weise endgültig zu lösen, wie sie Hitler in seiner 1926 veröffentlichten Denkschrift „Die Südtiroler Frage und das Deutsche Reich“ bereits hatte anklingen lassen.
Als die Nachricht vom Optionsabkommen bekannt wurde, ging eine Welle der Empörung durch Südtirol. Männer aus dem von den Faschisten aufgelösten Deutschen Verband (DV; 1921 hervorgegangen aus dem Zusammenschluß der Christlich-Sozialen und der Liberalen) sowie die im „Völkischen Kampfring Südtirols“ (VKS) Organisierten waren sich in der völligen Ablehnung der vorgesehenen Maßnahmen einig. Doch plötzlich schwenkte der VKS um und begann, Stimmung für das Reich zu machen. Wie sich herausstellte, hatte eine Delegation das Braune Haus in München aufgesucht und war dort auf Hitlers und Himmlers Vorgaben vergattert worden. Der Reichsführer-SS, den Hitler mit der Ausführung des Optionsabkommens beauftragt hatte, steuerte auf das Ziel hin, Südtirol sozusagen „deutschenfrei“ zu machen.
Italien übte mit Drohungen und Übergriffen zunächst Druck aus im Sinne der Option. Auch der VKS propagierte sie. Dagegen stemmte sich lediglich der DV um Kanonikus Michael Gamper, um den früheren Abgeordneten Paul von Sternbach und um den Bozner Kaufmann Erich Amonn sowie der größte Teil der Geistlichkeit. Als am 31. Dezember 1939 die Optionsfrist abgelaufen war, hatten dem amtlichen (italienischen) Ergebnis zufolge in der Provinz Bozen 166 488 und im Südtiroler Unterland (es war der Provinz Trient zugeschlagen worden), im Kanaltal (Provinz Udine) und in Buchenstein (Provinz Belluno) 16 572 Menschen für Deutschland optiert. Die Zahl der Nichtoptanten wurde mit gut 80 000 angegeben. Andere Quellen besagen, daß sich von den 246 036 Optionsberechtigten der heutigen Provinz Bozen (inklusive Unterland) 211 799 für die deutsche Staatsbürgerschaft und 34 237 für die Beibehaltung der italienischen entschieden. Von den Optanten wanderten etwa 95 000 ab. Die Umsiedlung kam schließlich als Folge des für Deutschland und Italien ungünstigen Kriegsverlaufs zum Erliegen. Abgesehen davon gehörte Südtirol zwischen 1943 (nach der Landung der Alliierten, ihrem Vormarsch und der Absetzung Mussolinis – er wurde Hitlers Marionette in der Rest-Republik von Salò am Gardasee), und 1945 als „Operationszone Alpenvorland“ direkt zum Deutschen Reich, sodaß sich die Umsiedlung trotz bürokratisch-formellen Aufrechterhaltens faktisch erübrigte. Das Geschehen als Ganzes hinterließ jedoch eine tiefe Kluft; die Dableiber waren bis noch vor einigen Jahren Anfeindungen der Optanten ausgesetzt – und vice versa.
Am 8. Mai 1945 gründete Erich Amonn mit einer Gruppe Gleichgesinnter vorwiegend aus dem Kreise der Dableiber die Südtiroler Volkspartei (SVP). Sie verlangte für Südtirol das Selbstbestimmungsrecht. Listen mit mehr als 160 000 Unterschriften für die Selbstbestimmung waren 1946 in Innsbruck Leopold Figl, dem ersten Nachkriegskanzler Österreichs, übergeben worden. Die SVP wurde von den Alliierten sofort anerkannt, ging sie doch aus der Widerstandsbewegung „Andreas Hofer-Bund“ hervor, der im November 1939 gegründet worden war. Die Geheimorganisation hatte bereits im Frühjahr 1943 mit den westlichen Alliierten Fühlung aufgenommen und trat für die Rückgliederung des Landes nach Österreich ein. Am 1. Mai 1946 wiesen die Außenminister der vier Großmächte (Vereinigte Staaten, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich) die Forderung des schwachen Österreich nach einer Volksabstimmung in Südtirol zurück; am 24. Juni lehnten sie auch den Antrag Wiens auf „kleine Grenzberichtigungen“ (die sogenannte „Pustertal-Lösung“) ab. Auf der Pariser Friedenskonferenz kam es aber auf Betreiben der Siegermächte nach langem Hin und Her wenigstens zum Abschluß eines Schutzvertrags für das neuerlich Italien überantwortete Südtirol. Das Abkommen war vom italienischen Ministerpräsidenten Alcide De Gasperi und dem österreichischen Außenminister Karl Gruber geschlossen worden. Der Vertrag sicherte den Südtirolern Maßnahmen zur Erhaltung des Volkscharakters sowie der wirtschaftlichen und kulturellen Entfaltung zu. Dazu zählten Schulen in der Muttersprache, Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache, Gleichberechtigung bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst, Revision der Option und – als wichtigste Bestimmung – die Gewährung einer Autonomie für die Provinz Bozen. Das italienisch-österreichische Südtirol-Abkommen wurde in den Friedensvertrag der Alliierten mit Italien aufgenommen und Bestandteil der italienischen Verfassung.
Die italienische Nationalversammlung hieß am 31. Januar 1948 das sogenannte Erste Autonomiestatut gut, welches sich aus dem Pariser Vertrag und der daraus hervorgegangenen Verfassungsbestimmung ableitete. Im Statut waren allerdings die beiden benachbarten Provinzen Bozen und Trient zu einer Region Trentino-Südtirol (mit Parlament und Regierung) zusammengefügt, worüber sich sowohl der Pariser Vertrag als auch der darauf fußende italienische Verfassungsartikel ausschwiegen. Diese territoriale Verquickung geschah denn auch ohne die im Pariser Vertrag ausdrücklich vorgesehene Befragung der Vertreter der deutschsprachigen Südtiroler. Die im Vertrag festgeschriebene Selbstverwaltung der Südtiroler lag somit fortan – nach Auffassung Bozens und Wiens vertragswidrig – in den Händen der italienischen Majorität, welche die Region aufwies. Für die Provinz Bozen fiel allenfalls eine bescheidene „Unterautonomie“ ab. Infolge des Widerstands der Trentiner Democracia Cristiana (DC), der De Gasperi angehörte, und der römischen Regierung sowie Zentralbürokratie wurde aber nicht einmal diese ins Werk gesetzt. Doch konnte wenigstens eine Voraussetzung für die Zukunft der Südtiroler zwischen Österreich und Italien in Ausführung des Pariser Abkommens im Herbst 1947 geregelt werden – die Optantenfrage. Das entsprechende Dekret Roms trat vier Tage nach Erlaß des Autonomiestatuts am 2. Februar 1948 in Kraft. Damit konnten alle in Südtirol lebenden Optanten (formell noch deutsche Staatsbürger respektive Staatenlose) und ein beträchtlicher Teil der umgesiedelten Optanten die italienische Staatsbürgerschaft wieder erwerben.
Im weiteren Fortgang sah sich die von der SVP gestellte Südtiroler Landesregierung durch die von Rom wie zu Zeiten Mussolinis gezielt forcierte Ansiedlung von Italienern von einer „Unterwanderung der Heimat“ bedroht, zumal da die Region Trentino-Südtirol fest in italienischer Hand war. Dagegen lehnte sich die SVP als „Sammelpartei der deutsch- und ladinischsprachigen Südtioler“ auf, und Wien führte in Rom Beschwerde wegen der „mangelhaften Durchführung des Pariser Vertrags“. Mit dem Staatsvertrag von 1955 war Österreich außenpolitisch handlungsfähig geworden und untersützte die am 17. November 1957 von SVP-Obmann Silvius Magnago vor 35 000 Kundgebungsteilnehmern auf Schloß Sigmundskron erhobene Forderung „Los von Trient“.
Am 16. Januar 1959 erließ die römische Regierung die Durchführungsbestimmungen zu dem Artikel des Autonomiestatuts, in welchem der Provinz Bozen gesetzgeberische Zuständigkeiten für den sozialen Wohnbau eingeräumt worden war. Mit diesem Dekret wurden jedoch die den Südtirolern im Pariser Vertrag zuerkannten Befugnisse wieder sehr stark beschnitten, um nicht zu sagen außer Kraft gesetzt. Als Protest kündigte die SVP die Zusammenarbeit in der Region auf und ging nach 11 Jahren der Kooperation mit der Trentiner DC in die Opposition. Die beiden Mitglieder in der Regionalregierung wurden abberufen. Zwei Tage nach dem Bruch fuhr die Parteileitung der SVP nach Wien, um der österreichischen Bundesregierung als Partner des Pariser Vertrages und Schutzmacht Südtirols Bericht zu erstatten.
Als Proteste und diplomatische Demarchen Wiens in Rom nichts fruchteten, trug der damalige österreichische Außenminister Bruno Kreisky die Südtirol-Frage vor die Vereinten Nationen (UN). Nach zweiwöchiger Debatte im Politischen Sonderausschuß verabschiedete die UN-Vollversammlung einstimmig eine Entschließung zur Südtirol-Frage. Darin wird Artikel 1 des Pariser Abkommens als Zweckbestimmung des gesamten Vertrages festgelegt, so daß auch der die Autonomie betreffende Artikel 2 unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Volkscharakters und der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Südtiroler zu behandeln war und Österreich auch in diesem Punkt ein Mitspracherecht zugestanden wurde. Die Entschließung forderte beide Staaten zu Verhandlungen auf, um alle Meinungsverschiedenheiten aus dem Pariser Abkommen zu klären. Damit bekräftigten die UN zugleich die Berechtigung Österreichs, sich die Sache Südtirols zueigen zu machen („Schutzmachtfunktion“).
Treffen der Außenminister beider Staaten im Januar, Mai und Juni 1962 blieben im wesentlichen ergebnislos. Italien erklärte sich nur zu einer besseren Durchführung des vorliegenden Autonomiestatuts bereit, widersetzte sich aber jeder Änderung der statuarischen Bestimmungen. Daraufhin unterbreitete Österreich im November 1961 die Südtirol-Frage abermals den UN, deren Vollversammlung am 18. November die Resolution des Vorjahrs erneuerte. Jetzt erst setzte der italienische Ministerrat die sogenannte Neunzehnerkommission ein. Ihr wurde die Aufgabe übertragen, die Südtirol-Frage unter allen Gesichtspunkten zu erörtern und der Regierung Vorschläge zu unterbreiten. Die Kommission setzte sich aus sieben Deutsch-Südtirolern, einem Ladiner und elf Italienern zusammen. Sie ist auch in Zusammenhang mit der sogenannten „Feuernacht“ in Südtirol vom 11. auf den 12. Juni 1961 zu sehen. Am „Herz-Jesu-Sonntag“ werden traditionell Feuer auf den Bergen entzündet. In besagter Nacht allerdings kam es zur Sprengung von Dutzenden und Aberdutzenden von Masten der staatlichen italienischen Elektrizitätsgesellschaft. Die Anschläge, bei welchen der „Befreiungsausschuß Südtirol“ (BAS) – beteiligt waren namhafte Tiroler von diesseits und jenseits des Brenners, unterstützt von anderen Österreichern und vereinzelt auch Deutschen – peinlichst auf Schonung von Menschenleben bedacht war, rückten Südtirol in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit. Italien konnte trotz aller Inhaftierungen (es kam zu Folter und Toten unter den Häftlingen, so beispielsweise in der Carabinieri-Kaserne zu Eppan), trotz der Entsendung von mehr als 20 000 Soldaten gen Norden und trotz zweier Prozesse in Mailand gegen die Freiheitskämpfer nicht umhin, ihr Rechnung zu tragen.
Die Neunzehnerkommission schloß ihre Arbeit am 10. April 1964 ab. Sie machte sich einen Gutteil der Südtiroler Forderungen zu eigen, aber wichtige Punkte blieben noch offen. Unmittelbar nach Abschluß der Kommissionstätigkeit fand am 25. Mai in Genf eine Konferenz zwischen den Außenministern Kreisky und Giuseppe Saragat statt. Man beschloß die Einsetzung einer italienisch-österreichischen Expertenkommission. Die Ergebnisse der Neunzehnerkommission wurden den Besprechungen zugrundegelegt und somit auf internationale Ebene gehoben. Kreisky und Saragat trafen noch zweimal, im September und Dezember 1964, zusammen. Doch die erzielten Verbesserungen genügten den Südtirolern noch nicht. In den folgenden Jahren kam es zu Treffen von Fachleuten im kleinen Kreis und schließlich zu Verhandlungen zwischen dem Südtiroler Landeshauptmann Silvius Magnago und dem italienischen Ministerpräsidenten und zeitweiligen Außenminister Aldo Moro. Zu einer weiteren Schlüsselfigur der in die zweiseitigen Verhandlungen zwischen Wien und Rom eingebetteten Kontakte zwischen Bozen und Rom wurde auch der Wiener Außenminister und spätere UN-Generalsekretär und österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim.
Auf einer „epochemachenden“ Landesversammlung der SVP 1969 in Meran wurde das ausgehandelte Autonomie-Paket mit knapper Mehrheit gebilligt. Der darin enthaltene „Operationskalender“ führte 137 Maßnahmen zum Schutz der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols auf und legte Schritt für Schritt fest, wie die Autonomie zu gestalten sei. Das italienische Parlament und der österreichische Nationalrat stimmten „Paket“ und „Operationskalender“ zu, so daß drei Jahre später das neue Zweite Autonomiestatut in Kraft treten konnte. Bis 1974 sollten die Durchführungsbestimmungen erlassen werden. Viele Punkte konnten bis dahin geklärt, die meisten Durchführungsbestimmungen in den folgenden Jahren verabschiedet werden. Sieben standen bis unmittelbar vor der völkerrechtlichen Beseitigung des Konflikts noch aus. Die Verwaltungsverordnungen traten alle in Kraft.
Damit Südtirol die Zuständigkeiten für Sachgebiete, welche ihm das Statut zuerkannte, auch übernehmen konnte, mußten Durchführungsbestimmungen erlassen werden. Sie wurden von einer Sechserkommission erarbeitet, wenn es sich um Befugnisse des Landes handelte, von einer Zwölferkommission, wenn sie beiden Provinzen oder der Region Trentino-Südtirol zustanden. Die Kommissionen unterbreiteten ihre Vorschläge der römischen Regierung. Machte sich diese die Vorschläge zu eigen, so wurden sie per Dekret des Staatspräsidenten in Kraft gesetzt. In den siebziger Jahren wurden nach und nach im Einvernehmen mit den Südtiroler Vertretern wichtige Durchführungsbestimmungen erlassen. Ende der siebziger Jahre verlangsamte sich das Tempo bei der Ausarbeitung und beim Erlaß der Bestimmungen. Dies führte zu einer Verschlechterung des politischen Klimas im Lande, wofür unter anderem der Stimmenzuwachs für die neofaschistische Sozialbewegung MSI („Movimento Sociale Italiano“) und das Wiederaufleben politischer Attentate standen, von denen wir heute wissen, daß sie zu einem Gutteil von Angehörigen der italienischen Geheimdienste und Angehörigen des italienischen Zweigs der geheimen Nato-Verbände, die unter dem Namen „Gladio“ bekannt wurden, angezettelt wurden, um die Stimmung im Lande so zu verschlechtern, daß der Staat den Prozeß der Autonomisierung Südtirols hätte unterbinden sollen.
Die größte Schwierigkeit bereitete die Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache vor Gericht und in der Verwaltung. Nach mehrmals unterbrochenen Verhandlungen einigte sich eine Delegation der SVP mit der Regierung Giovanni Goria 1988 auf einen diesbezüglichen Kompromiß. Gorias Nachfolger Ciriaco De Mita übernahm das Ergebnis; auch unter Bettino Craxi und danach unter Giulio Andreotti wich man nicht wesentlich davon ab. Nach einer Südtirol-Debatte im italienischen Parlament erhielt die Übereinkunft eine Mehrheit. Doch es taten sich neue Probleme auf. Rom beharrte plötzlich auf einer „gesamtstaatlichen“ (besser: zentralstaatlichen) „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“. Bozen sah darin einen Schritt zur essentiellen Aushöhlung der Autonomie und verlangte demzufolge vor dem „Signal“ der SVP an die „Schutzmacht Österreich“ zur Abgabe der Streitbeilegungserklärung deren Beseitigung oder Milderung. Sodann wollte die SVP – erfahren in nicht eingehaltenen oder einseitig ausgelegten Abmachungen mit Rom – die internationale Verankerung des Autonomiepakets und dessen Einklagbarkeit vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag gesichert wissen. Mit der österreichischen Regierung, in Sonderheit mit Außenminister Alois Mock, wurden daher Bedingungen für die Streitbeilegungserklärung festgelegt. Über den „Paketabschluß“ sollte die SVP letztgültig befinden.
Nach den grundstürzenden Veränderungen in Osteuropa und nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten flammte 1990 auch in Tirol die Selbstbestimmungsdiskussion wieder auf, von der auch die SVP erfaßt wurde. Roland Riz, Nachfolger Magnagos in der Funktion des SVP-Vorsitzenden, stellte daraufhin der Regierung Andreotti ein „Ultimatum“, bis zum Parteitag im November 1991 die noch ausstehenden Paketbestimmungen einvernehmlich zu erlassen. Die SVP-Landesversammlung billigte sodann mit knapper Mehrheit einen Kompromiß hinsichtlich der „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“, von der Rom nicht abließ.
Am 30. Januar 1992 – nach weiteren intensiven Beratungen mit Bozen und Wien – gab Ministerpräsident Andreotti vor dem danach aufgelösten Parlament in Rom eine Südtirol-Erklärung ab, worin er den 45 Jahre währenden Streit für beendet ansah. Die SVP-Führung gab sich jedoch mit modifizierenden Passagen der Erklärung nicht zufrieden und beharrte besonders auf der internationalen Paket-Verankerung. Dem kam Andreotti am Tag seines Rücktritts (22. April) in einer diplomatischen Note an Wien nach, in welcher das Autonomiepaket von 1969, als „auf dem Abkommen von 1946 fußend“ förmlich für erfüllt erklärt wurde. In dieser Passage sahen Wien und Bozen die internationale Verankerung (wegen der Berufung auf ein völkerrechtlich gültiges Abkommen) als gegeben an; zudem wich Rom damit von dem bis dahin konsequent vertretenen Standpunkt ab, bei dem Streit handele es sich um eine „inneritalienische Angelegenheit“. Das geht aus dem entscheidenden Passus „die höchstmögliche Verwirklichung der Autonomie und der Zielsetzung des Schutzes der deutschen Minderheit, wie sie im Pariser Vertrag enthalten ist, sicherzustellen, in welchem unter anderem die Gewährung der Ausübung einer autonomen Gesetzgebungs- und Exekutivgewalt vorgesehen ist“, hervor. Die diplomatische Note Italiens an Österreich enthielt – über das 1972 in Kopenhagen vereinbarte Procedere hinausgehend und der neueren Entwicklung Rechnung tragend – sogar eine zusätzliche Aussage: „Die italienische Regierung sieht das Ergebnis, das bei der Verwirklichung der Autonomie der Provinz Bozen erzielt wurde, als einen wichtigen Bezugspunkt für den Minderheitenschutz an, wie er sich auch im KSZE-Rahmen herausbildet. Auch dessen spezifische Verifikationsmechanismen können Anwendung finden, um die Konformität der Behandlung dieser Minderheit mit den Prinzipien sicherzustellen, welche man zum Zwecke eines friedlichen und harmonischen Zusammenlebens im neuen Europa kodifizieren wird.“
Auf einem außerordentlichen Parteitag am 30. Mai in Meran stimmten 83 Prozent der SVP-Delegierten dem „Paketabschluß“ zu. Nach mehrheitlich befürwortender Kenntnisnahme des (Nord-)Tiroler Landtags und nach vom österreichischen Nationalrat (mit Ausnahme der geschlossen dagegen stimmenden FPÖ-Fraktion) am 5. Juni getragener Zustimmung war der Weg zur Abgabe der Streitbeilegungserklärung gegenüber Italien und den UN frei. Sie wurde am 10. Juni 1992 in Rom übergeben und schließlich zusammen mit der italienischen Note an Österreich in New York hinterlegt. Sie hat folgenden Wortlaut: „Im Hinblick darauf, daß zwischen Österreich und Italien eine Streitigkeit über die Durchführung des Pariser Abkommens vom 5. September 1946 entstanden ist; im Hinblick darauf, daß diese Streitigkeit Gegenstand der Resolutionen 1497 (XV) und 1661 (XVI) der Generalversammlung der Vereinten Nationen war; unter Bedachtnahme darauf, daß die Generalversammlung der Vereinten Nationen Österreich und Italien in den erwähnten Resolutionen empfohlen hat, die Verhandlungen mit dem Ziel wiederaufzunehmen, eine Lösung aller Differenzen hinsichtlich der Durchführung des obengenannten Abkommens zu finden; in Anbetracht der Tatsache, daß die Wiederaufnahme der Verhandlungen stattgefunden und zur Annahme einer Methode der Beratung geführt hat, welche geeignet war, die Beilegung der Streitigkeit ohne Präjudiz für die jeweiligen Rechtsstandpunkte der beiden Seiten herbeizuführen; mit Rücksicht darauf, daß die italienische Regierung in ihrer Regierungserklärung vom 30. Januar 1992 mit besonderer Bedachtnahme auf die Interessen der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols detailliert aufgezählte Maßnahmen angekündigt hat, die in dauerhafter Weise das friedliche Zusammenleben und die Entwicklung der Sprachgruppen Südtirols zu gewährleisten bestimmt sind; angesichts der Tatsache, daß die italienische Regierung diese in der Regierungserklärung vom 30. Januar 1992 angekündigten Maßnahmen nunmehr verwirklicht hat, erklärt die österreichische Bundesregierung, daß sie die zwischen Österreich und Italien bestehende Streitigkeit, die Gegenstand der erwähnten Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen war und den Status des deutschsprachigen Elements der Provinz Bozen – Durchführung des Pariser Abkommens vom 5. September 1946 – betrifft, als beendet erachtet.“
Eine Herausforderung bleibt die Selbstbestimmungsfrage, denn die Autonomie kann trotz des beschwerlichen Weges bis zu Streitbeilegungserklärung nur als Zwischen- oder Übergangslösung gelten. Bisher haben vor allem kleinere politische Formationen Südtirols für Rückgliederung nach Tirol und Österreich (STF) oder für einen „Freistaat Südtirol“ (FPS), jedenfalls aber für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts plädiert. Die Staatsschuldenkrise in der EU und also in Italien ließ unterm Brenner die Diskussion darüber an Breite gewinnen. Die SVP, die für Ausbau der Autonomie zur „Vollautonomie“ eintritt und damit zugibt, dass die bisher als „beste Autonomie der Welt“ und als „Modell für andere nationale Minderheiten“ gepriesene Selbstverwaltung allenfalls eine Halb- oder Teilautonomie ist, hat dagegen merklich an Strahlkraft eingebüßt, und ihre Position im Südtiroler Landhaus (Parlament) ist seit der Landtagswahl 2013 geschwächt, wo sie erstmals seit 1948 nicht mehr über die absolute Mehrheit der Sitze verfügt. Mitunter lässt sie sich auf Händel mit italienischen Parteien ein, die ihr früher nicht in den Sinn gekommen wären. Und die geeignet sind, den Oppositionsparteien und deren Begehr weiteren Zulauf zu garantieren.
Verstärkt wird das Selbstbestimmungsverlangen durch den immer ungezügelteren Eingriff der römischen Zentralregierung in autonome Befugnisse Südtirols. So richtig damit angefangen hat der „moderate“ Mario Monti an der Spitze einer „Expertenregierung“, die 2011, nach Jahrzehnten des „Dolce far niente“, mittels eines ambitionierten Sparpakets versuchte, den ramponierten Ruf Italiens wieder einigermaßen herzustellen, dabei aber all die im Rahmen der mühsam erkämpften (Finanz-)Autonomiebestimmungen für Südtirol erwachsenen Vorteile infragestellte und damit Buchstaben, Geist und Wert des gesamten Autonomiepakets und dessen völkerrechtliche Verankerung ad absurdum zu führen schien. Und nach ihm ist es weder unter Enrico Letta noch unter Matteo Renzi besser geworden. Im Gegenteil: Mit Regierungsdekreten und Erlässen zwingen die römischen Regierungschefs auch die jetzige Südtiroler Landesregierung unter dem nach der Wahl 2013 ins Amt gekommenen Landeshauptmann Arno Kompatscher zur finanziellen Alimentierung dessen, was sie für die Bewältigung der Überschuldung Italiens und der Sanierung des Staatsbudgets für notwendig erachten.
Seit Jahren und Jahrzehnten schieben Italiens Regierungen und Finanzminister – egal, welche Partei sie jeweils stellt – einen Schuldenberg vor sich her, der sich an 135 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bemisst. Das bedeutet, dass eine gesamte volkswirtschaftliche Jahresleistung an erzeugten Gütern und erbrachten Dienstleistungen nicht ausreichen würde, um Italiens Verschuldung zu beseitigen. Auch Renzi, der Letta innerparteilich im linken Partito Democratico (PD) stürzte, gibt daher allen 20 Regionen und 103 Provinzen auf, nicht allein selbst zu sparen, sondern kürzt ihnen zudem die dringend benötigten Zuweisungen aus Rom. Er macht dabei offensichtlich keinen Unterschied zwischen jenen mit Sonderstatut, wie Südtirol, und jenen mit Normalstatut. Jüngster Angriff auf die Autonomie ist das Verlangen Roms, die dortige Autobahngesellschaft habe ihren Jahresertrag, der eigentlich für die Brenner-Basistunnel-Gesellschaft vorgesehen ist, an Rom zu überweisen. Man darf gespannt sein, wie der Streit darüber ausgeht: Höchstwahrscheinlich so wie stets, indem nämlich ein fauler Kompromiss zu ungunsten der Südtirol-Autonomie geschlossen wird und die SVP-Regierung dies als „Erfolg“ verkauft. Was ihr aber immer weniger Menschen abnehmen.
Hinter die Separations- und Wiederangliederungsgelüste der Oppositionskräfte, die auch in (Nord- und Ost-)Tirol und in ganz Österreich auf Sympathie stoßen, stellt sich ein großer Teil der – (partei)politisch formell neutralen – Schützen, jener traditionsreichen Verbände, die in allen Landesteilen der anno 1500 an die Habsburger gefallenen gefürsteten Grafschaft Tirol verankert sind und ihre Heimattreue seit dem Maximilianischen Landlibell von 1511, in welchem die Freiheiten (der Stände) Tirols kodifiziert wurden, mannigfach unter Beweis stellten. Im Frühjahr 2012 haben die Schützenverbände Tirols, Südtirols und Welschtirols (Trentino) unter demonstrativer gemeinsamer Führung ihrer Kommandanten in einem Marsch durch Bozen, an dem etwa 5000 Menschen teilnahmen, unter der Losung „Los von Rom“ eine „Zukunft ohne Italien“ proklamiert. Ein erster Schritt dazu – das bekunden auch die genanten Oppositionsparteien sowie im österreichischen Nationalrat die FPÖ, die verlangt, Österreich müsse „Südtirol die Möglichkeit geben, sich dem italienischen Abwärtsstrudel zu entziehen“ – sei die Gewährung der österreichischen Staatsbürgerschaft für Südtiroler. Dabei wird auf das Beispiel Ungarns verwiesen: Budapest verleiht allen Magyaren außerhalb des Landes, die sie beantragen und ihr Ungarntum nachweisen, die ungarische Staatsbürgerschaft. Das ist in der EU umstritten, und in Wien haben sowohl das Außen- als auch das Innenministerium Bedenken gegen das Südtiroler Begehr angemeldet. Doch in einem Gutachten des Innsbrucker Rechtswissenschaftlers Walter Obwexer und in Stellungnahmen des Verfassungsdienstes des Wiener Bundeskanzleramts wird die Möglichkeit der entsprechenden Gesetzesanpassung und also Erteilung der Staatsbürgerschaft, für die eine Bürgerinitiative 22 000 Unterschriften sammelte und für die auch die SVP-Führung Sympathie signalisierte, für rechtskonform gehalten. Insofern ist „die doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler nur noch eine Frage des politischen Willens“, den aber SVP und österreichische Regierung bisher nicht aufbrachten. Auch 2013 machte der Südtiroler Schützenbund (SSB) in einer von mehr als 10 000 Menschen besuchten Großveranstaltung in Meran darauf aufmerksam, dass die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts für die Zukunft Südtirols unabdingbar sei.
Die Charta der Vereinten Nationen erwähnt das Selbstbestimmungsrecht (SBR) der Völker in den Artikeln 1 und 55, jedoch ohne es zu definieren. Eine bindende Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Einhaltung des Rechts auf Selbstbestimmung geht dagegen aus den beiden Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen hervor, die 1966 von der UN-Generalversammlung angenommen wurden und nach Erreichen der nötigen Anzahl an Ratifizierungen 1977 in Kraft traten. Es ist also geltendes Recht. In den Pakten heißt es gleich lautend in Artikel I: „(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“ „(3) Die Vertragsstaaten (…) haben entsprechend der Charta der Vereinten Nationen die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten.“ Das SBR ist ius cogens, also zwingendes Recht; Verträge; die gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker verstoßen, sind entsprechend nichtig. Auf separatistisch-sezessionistische Lösungen sinnenden politischen Bewegungen und Parteien wird stets entgegengehalten, ihr Begehr laufe auf Grenzverschiebung hinaus und ende meist in Gewalt und Krieg. Das Völkerrecht stehe für die territoriale Integrität eines Staates, lasse mithin die Sezession nicht zu. Das ist mit der IGH-Entscheidung vom 21. Oktober 2010 wenn nicht überholt, so doch sehr fragwürdig geworden, wonach die Deklaration der Unabhängigkeit des Kosovo vom 17. Februar 2008 „das allgemeine internationale Recht nicht verletzt“ habe. Auch die IGH-Entscheidung selbst ist interpretationsbedürftig. Bis heute haben 75 von 192 UN-Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit des Landes anerkannt.
Auch die völkerrechtliche „Unverletzlichkeit der Grenzen“, mithin die angeblich unerlaubte Grenzverschiebung, die immer wieder gegen Selbstbestimmungs- und Loslösungsgelüste in Südtirol und anderswo ins Feld geführt werden, ist letztlich nicht stichhaltig. Grenzverschiebungen hat es nach 1945 ebenso gegeben wie nach 1989, Sezessionen – auch kriegerische – und neue Staaten ebenso. Hier soll jedoch die „zwar bedauerliche, aber auf vorbildlich friedfertige Art und Weise vollzogene Teilung eines Staates“, wie sie der damalige deutsche Außenminister Klaus Kinkel nannte, als Gegenstück genannt werden. In einer „samtenen Revolution“ ohne Gewalt erkämpften 1989 Tschechen und Slowaken noch gemeinsam die Freiheit. Nach den ersten freien Wahlen 1990 waren dann in der Slowakei massive Forderungen nach Auflösung der „Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik“ zu hören. Nach Verhandlungen zwischen den damaligen Ministerpräsidenten Vaclav Klaus und Vladimir Meciar proklamierte dann im Juli 1992 der slowakische Landesteil die Trennung vom tschechischen. Und zum 1. Januar 1993 trat die Unabhängigkeit der Slowakei in Kraft, womit die „samtene Scheidung“ vollzogen wurde.
Unter anderem mit der Begründung, Rom sei weder im Innern pakttreu, noch halte es im Außenverhältnis völkerrechtliche Verträge ein – und die SVP nehme dies hin, weiche stets zurück und verharre in ihrer jahrzehntelangen Politik des Kompromisslertums – hatte die STF ihr „Selbstbestimmungs-Referendum“ von 2013 organisiert. Würde auch die – neben der STF, die einen Sitz hinzugewann und nun mit drei Abgeordneten vertreten ist – in der Landtagswahl am 27. Oktober 2013 erheblich erstarkte FPS (sechs Abgeordnete) sowie die kleine BürgerUnion (BU ein Landtagssitz) an einem landesweiten Referendum mitwirken, so könnte sich wohl auch die SVP nicht mehr allzulange dem Selbstbestimmungsbegehr mit der Begründung entziehen, Voraussetzung dafür sei, dass Rom völkerrechtliche Verträge missachte und zu seiner Durchsetzung – nach positivem Ausgang – der Wille und die Kraft Österreichs vonnöten sei, des Vertragspartners Italiens. Beides ist nicht gar so irreal wie es noch scheinen mag.
Reynke de Vos