Geschichte bedarf bisweilen der Revision. Revision heißt, sie aufs Neue in den Blick zu nehmen. Erstmals aufgefundene oder unterbelichtet gebliebene, mitunter auch bisher gänzlich unbeachtete oder dem freien Zugang entzogene Dokumente zeitigen meist erhellende Einblicke und nicht selten ertragreiche Befunde. Wobei die akribische Auswertung und sorgfältige Analyse von ans Licht geholten Fakten jene „Erkenntnisse“ grundlegend zu erschüttern vermögen, worauf die bis dato für sakrosankt erachteten, historiographisch festgeschriebenen wie massenmedial verbreiteten „Wahrheiten“ und/oder Meinungen respektive „Überzeugungen“ beruhten.
Eine derart „revisionistische“ Umschreibung zeitgeschichtlicher Gewissheiten ist nunmehr aufgrund der neuerlichen Inaugenscheinnahme des an Spannungen reichsten Kapitels der jüngeren österreichisch-italienischen Beziehungen zwingend geboten. Im Allgemeinen ist dieses Kapitel vom Südtirol-Konflikt sowie vom Freiheitskampf mutiger Idealisten und im Besonderen von den sogenannten „Bombenjahren“ geprägt gewesen. Ein österreichischer Militärhistoriker, der sich wie nie jemand zuvor intensiv mit den brisantesten Akten seines Landes über die Geschehnissen der 1960er Jahre befasste, legte dazu soeben eine beeindruckende, großformatige Publikation von nahezu 800 Seiten vor, worin er manches zuvor für sicher, weil „wahr“ Gehaltene ins rechte Licht rückt und damit vom Kopf auf die Füße stellt. Brisante Akten Hubert Speckners Buch „Von der ,Feuernacht‘ zur ,Porzescharte‘. Das ,Südtirolproblem‘ der 1960er Jahre in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten“ [Wien (Verlag Gra&Wis) 2016; ISBN 978-3-902455-23-9; 768 S.; zahlreiche Abb., 49,– €] ist Ergebnis und Ertrag disziplinierter langjähriger, umsichtiger Studien im Österreichischen Staatsarchiv/Archiv der Republik. Darüber hinaus erstrecken sie sich auf die – der breiteren Öffentlichkeit nicht zugänglichen – Bestände der Staatspolizei (StaPo) und der Justiz sowie auf einschlägige Dokumentationen des Entschärfungsdienstes des Innenministeriums; sie erfassen schließlich auch „streng geheime“ Bestände des Verteidigungsministeriums über den Einsatz des Bundesheeres an der Grenze zu Italien anno 1967. Daraus ergibt sich für den promovierten, an der Landesverteidigungsakademie in Wien tätigen Offizier der Befund, dass der Truppeneinsatz sozusagen den Höhepunkt der „verstärkten Grenzüberwachung“ der Sicherheitskräfte der Republik Österreich nach der „Feuernacht“ (11./12. Juni 1961) in Südtirol bildete, in der Aktivisten des „Befreiungsauschusses Südtirol“ (BAS) in einer konzertierten Aktion mittels Sprengung von ungefähr 40 Hochspannungsmasten die Energieversorgung im Bozner Becken zeitweise lahmgelegt und damit der Industrie Norditaliens partiell Schaden zugefügt hatten.
Von 1961 bis zum Sommer 1967, dem absoluten „Höhepunkt“ der Südtirol-Problematik nach dem Zweiten Weltkrieg, geriet Österreich unter wachsenden Druck Italiens. Dies führte nach dem „Vorfall auf der Porzescharte“, zufolge dessen gemäß amtlichen italienischen Verlautbarungen am 25. Juni 1967 vier italienische Soldaten den Tod fanden, einerseits zum Veto Italiens gegen die damaligen EWG-Assoziierungsverhandlungen Österreichs, andererseits zur „verstärkten Grenzüberwachung“ durch sein Militär. Dem Geschehen rund um den Vorfall vom Juni 1967 hatte Speckner bereits sein aufsehenerregendes, 2013 ebenfalls im Verlag Gra&Wis zu Wien erschienenes Buch „Zwischen Porze und Roßkarspitz…“ gewidmet.
Anschließend nahm er sich aller vorhandenen sicherheitsdienstlichen Akten zu Südtirol an, denen die maßgebliche zeitgeschichtliche Forschung – entgegen dem weithin erweckten Eindruck, wonach „eigentlich alles gesagt“ sei – ein nur äußerst geringes Interesse entgegengebracht hatte. Daher seien von den akribisch aufbereiteten 48 „aktenkundig“ gewordenen Vorfällen einige exemplarisch vorgestellt, bei denen die aus den Inhalten der jeweiligen österreichischen Dokumente gewonnenen Erkenntnisse massiv von den jeweiligen offiziellen italienischen Darstellungen abweichen. Vertuschung des wahren Sachverhalts
So hatte Italien mittels einer „diplomatischen Note“ unverzüglich die angebliche „Untätigkeit der österreichischen Sicherheitsbehörden gegen die Terroristen, die von Österreich aus operieren“ angeprangert, als es in der Nacht vom 12. auf den 13. September 1965 am Reschenpass angeblich zu einem „Angriff von BAS-Aktivisten gegen eine Alpini-Kaserne“ gekommen sei. Indes ergaben die Nachforschungen der StaPo, dass es sich lediglich um eine in der „Manuela Bar“ in Reschen unter angetrunkenen italienischen Soldaten ausgebrochene Streiterei wegen anwesender deutscher Urlauberinnen gehandelt hatte. Einige Soldaten verließen demnach die Bar, holten in der Kaserne ihre Waffen und eröffneten das Feuer auf die im Lokal Verbliebenen. Dagegen waren laut StaPo nirgendwo Einschläge oder Schäden durch angeblich von BAS-Leuten geworfene Handgranaten zu registrieren gewesen. Stattdessen hatte der ebenfalls anwesende und ebenfalls alkoholisierte Kasernenkommandant am nächsten Morgen einen „Terroristenüberfall“ gemeldet, um den wahren Sachverhalt zu vertuschen. Und Italien überzog Österreich mit Anschuldigungen. Die Schüsse am Reschenpass wurden fortan und werden bis heute wahrheitswidrig als „BAS-Anschlag“ dargestellt.
Ähnlich verhält es sich hinsichtlich eines Vorfalls, der sich am 23. Mai 1966 am Pfitscherjoch – am Grenzverlauf zwischen Südtiroler Pfitschtal und Nordtiroler Zillertal – zutrug. Laut offizieller italienischer Darstellung löste Bruno Bolognesi, Angehöriger der Guardia di Finanza (Finanzwache), beim Betreten der Schutzhütte nahe der Grenze eine 50-kg-Sprengladung aus, die ihn das Leben gekostet habe. Italien verdächtigte sofort die „Pusterer“, vier BAS-Aktivisten aus dem Ahrntal, und führte ohne Beiziehung österreichischer Sicherheitsbehörden im Zillertal Erhebungen durch. Allerdings existiert eine vom Bozner Kommando der Guardia di Finanza zu dem Vorfall angelegte Bilddokumentation, derer die österreichischen Behörden habhaft wurden. Laut unabhängig voneinander vorgenommenen Expertisen von Spreng(stoff)sachverständigen belegen die Aufnahmen – ebenso wie das Foto, welches den toten Finanzer zeigt – allerdings keinesfalls die Explosion von 50 kg Sprengstoff, sondern vielmehr eine Gasexplosion in der Schutzhütte. Doch nach wie vor beschuldigt Italien besagte BAS-Aktivisten aus dem Ahrntal, weshalb Rom deren Rehabilitierung stets strikt ablehnt(e). Wohingegen die „Strafverfolgung“ für jene italienischen Neofaschisten ans Lächerliche grenzt, die für zweifelsfrei erwiesene Sprengstoffanschläge auf österreichische Einrichtungen – wie am 01. Oktober 1961 auf das Andreas-Hofer-Denkmal in Innsbruck oder am 18. August 1962 auf das „Russendenkmal“ in Wien, respektive den für einen österreichischen Polizisten tödlichen Anschlag vom 23. September 1963 am Ebensee – verantwortlich waren. Ein „Attentat“, das keines war
Der spektakulärste und für die damaligen österreichisch-italienischen Beziehungen folgenschwerste Vorfall trug sich am 25./26. Juni 1967 auf der Porzescharte, am Grenzverlauf zwischen Osttirol und der italienischen Provinz Belluno, zu. Die vorliegenden österreichischen Akten beweisen zweifelsfrei, dass die offizielle italienische Version, wonach die angeblich von drei „Terroristi“ aus Österreich begangene Tat – Sprengung eines Strommastes und Verlegen einer Sprengfalle, bei deren Detonation vier Soldaten getötet und einer schwer verletzt worden sein sollen – so nicht stimmen kann. Darüber hinaus ging aus mehreren Geländebegehungen und Feldstudien sowie aus der Expertise ausgewiesener Sachverständiger die sprengtechnische Unmöglichkeit dieser bis heute offiziellen Darstellung hervor, was Italien bis zur Stunde ignoriert. Für die Experten gilt es als gesichert, dass sich dort mindestens drei Explosionen ereignet haben müssen. Und es zeigt(e) sich mit einiger Deutlichkeit, dass Angehörige der italienischen „Stay behind“-Organisation „Gladio“ im Zuge der von staatsstreichbeseelten Militärgeheimdienstoffizieren verfolgten „Strategie der Spannungen“ als wahre Verursacher der Geschehnisse gelten müssen, deren Machenschaften in Italien erst zu Beginn der 1990er Jahre publik werden sollten. Was allerdings für die 1971 in Florenz zu Unrecht – weil für eine nicht begangene Tat – und darüber hinaus wider die Europäische Menschenrechtskonvention – weil in Abwesenheit – zu lebenslanger Haft verurteilten drei Österreicher, von denen noch zwei am Leben sind, bis zur Stunde folgenlos geblieben ist. Instrumentalisierte, gezielte Anschuldigungen
Aus dem was Hubert Speckner sorgsam zusammengetragen, gründlich ausgewertet und im Zusammenwirken mit Sachverständigen aufbereitet sowie durch schlüssige Analysen untermauert hat, lassen sich wichtige Erkenntnisse gewinnen und resümierend einige revisionistische Schlüsse ziehen. So fanden Aktionen des BAS ungefähr zeitgleich eine gewisse Parallelität durch italienische Neofaschisten. Umgehend instrumentalisierte Italien vor allem jene Vorfälle mit bis heute nicht einwandfrei geklärten Hintergründen und nutzte sie politisch wie medial gegen Österreich. Hatte Italien nach dem Zweiten Weltkrieg alles versucht, um die Südtiroler – mit Hinweis auf die zwischen Hitler und Mussolini 1939 vereinbarte, aber infolge Kriegsverlaufs verringerte und schließlich zum Stillstand gekommene „Option“ – zu Nazis abzustempeln, so stellt(e) es seit Ende der 1950er Jahre alle BAS-Aktivisten in die rechte Ecke und politisch wie publizistisch unter Generalverdacht des N(eon)azismus. Was in politischen Milieus Österreichs und Deutschlands von ganz links bis zur Mitte verfing und bis heute anhält. Und womit den Aktivisten, die aus Verzweiflung ob der kolonialistischen Unterwerfungspolitik – auch des „demokratischen“ Nachkriegsitaliens – handelten, bis zur Stunde Unrecht geschieht.
Der BAS-Grundsatz, wonach „bei Anschlägen keine Menschen zu Schaden kommen dürfen“, wurde trotz Eskalation der Gewalt zwischen 1961 („Feuernacht“) und 1969 (mehrheitliche Annahme des Südtirol-„Pakets“ durch die Südtiroler Volkspartei) weitestgehend eingehalten. Der Tod nahezu aller während dieser Jahre gewaltsam ums Leben gekommenen Personen ist nicht dem BAS als solchem anzulasten, wie dies fälschlicherweise von der italienischen Justiz und diversen Medien wahrheitswidrig festgestellt sowie verbreitet wurde und noch heute behauptet wird. Stattdessen handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Unfälle – so im Falle des Todes von Bruno Bolognesi in der Pfitscherjoch-Hütte am 23.06.1966 sowie von Herbert Volgger, Martino Cossu und Franco Petrucci am 09.09.1966 auf der Steinalm-Hütte. Oder um einen Unfall in Verbindung mit einer Geheimdienstaktion – so im Falle des Todes von Olivo Dordi, Francesco Gentile, Mario Di Lecce und Armando Piva am 25./26.06.1967 auf der Porzescharte. Oder um Geheimdienstaktivitäten wie im Falle des Todes von Filippo Foti und Edoardo Martini im „Alpenexpress“ zu Trient am 30.09.1967. In anderen ungeklärten Todesfällen – wie jenem des Vittorio Tiralongo (03.09.1964) sowie dem des Palmero Ariu und des Luigi De Gennaro (26.08.1965), schließlich auch jenem des Salvatore Gabitta und Guiseppe D´Ignoti (24.08.1966) – sind die Strafverfahren ohne Anklageerhebung infolge nicht ausreichender Erkenntnisse ohnedies eingestellt worden. Verdrehung der Tatsachen
Für einige im Zusammenhang mit dem Südtirol-Konflikt zwischen 1961 und 1963 in Österreich geplante und/oder ausgeführte Anschläge ist dem BAS ursprünglich die Täterschaft zugeschrieben worden. Es waren dies die Explosion einer am Denkmal der Republik in Wien angebrachten Sprengladung (30.04.1961); die Sprengung es Andreas-Hofer-Denkmals in Innsbruck (01.10.1961); Schüsse auf die italienische Botschaft in Wien (08.10.1961), Anschlagsversuche am Wiener Heldenplatz (27.12.1961) und auf das sowjetische Ehrenmal („Russendenkmal“) in Wien (18.08.1962) sowie der für den Gendarmen Kurt Gruber todbringende Sprengstoffanschlag in Ebensee (23.09.1963), bei dem es zudem zwei Schwer- und neun Leichtverletzte gab. Fälschlicherweise – denn die Taten waren von italienischen Neofaschisten bzw. von österreichischen Rechtsextremisten, die nicht dem BAS angehörten oder mit ihm in Verbindung standen, begangen worden. Ein Zusammenhang zwischen den Anschlägen und dem BAS wurde wahrheitswidrig von ideologisierten Personen sowie von (bewusst) falsch informierten/informierenden Medien in Österreich und nicht zuletzt von italienischen Stellen zur Gänze behauptet, um den BAS zu diskreditieren. Ranghohe Diskutanten verleihen der Studie
den Rang des offiziellen Standpunktes Wiens
Der Südtiroler Freiheitskampf der 1960er Jahre war letztendlich erfolgreich und hat entscheidend zur politischen Lösung des Konflikts („Paket“) beigetragen. Dies ist unlängst während einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion in Wien einmütig und eindrücklich bestätigt worden, in deren Rahmen Speckners voluminöse Studie erstmals öffentlich vorgestellt wurde. Zugegen waren neben dem vormaligen Außenminister Peter Jankowitsch (am Podium), dem ehemaligen Verteidigungsminister Helmut Krünes und dem einstigen Justizminister Harald Ofner ranghohe Vertreter des Staatsarchivs, der Präsidentschaftskanzlei sowie die Spitzen des Bundesheers und nicht zuletzt einige noch lebende Freiheitskämpfer. Zurecht schrieben daher die „Salzburger Nachrichten“, die Anwesenheit höchster Repräsentanten der Republik bei der öffentlichen Präsentation dieser die jüngere Zeitgeschichtsschreibung zuhauf korrigierenden Studie des Militärhistorikers verliehen ihr den Status des offiziellen Standpunkts Österreichs.
Autor Speckner unterstreicht, dass zum „Höhepunkt“ des Aufbegehrens der BAS-Aktivisten etwa 15.000 Angehörige italienische Soldaten zusätzlich in Südtirol stationiert wurden und somit dort die Sicherheitskräfte auf insgesamt etwa 40.000 Mann aufgestockt worden waren. Dennoch war deren Einsatz letztlich praktisch wirkungslos. Aufgrund dieses Umstands hatte der Ruf der italienischen Streitkräfte stark gelitten. Und wegen dieses Gesichtsverlusts und der enorm hohen zusätzlichen Kosten hätten in Rom letztendlich die „Tauben“ über die „Falken“ die Oberhand gewonnen, worauf auch zurückgeführt werden könne, dass unter Aldo Moro eine politische Lösung, das „Südtirol-Paket“, erreicht werden konnte. Damit und untermauert durch die übereinstimmenden Aussagen der Diskutanten während der Buchpräsentation dürfte auch die von dem Innsbrucker Zeitgeschichtler Rolf Steininger aufgestellte und wider alle Einwände von Zeitzeugen vertretene These, dass der Südtiroler Freiheitskampf kontraproduktiv gewesen sei – „Trotz und nicht wegen der Attentate wurde die 19er Kommission eingesetzt“ – als widerlegt gelten. Die moralische Verpflichtung Roms
Auf italienischen Druck hin und aus angeblicher Staatsräson hatte Wien damals wider besseres Wissen in vielen die Südtirol-Frage bestimmenden Angelegenheiten den römischen Forderungen nachgegeben. Und zum Nachteil von Südtirol-Aktivisten war seinerzeit von beteiligten österreichischen Stellen sozusagen aus vorauseilenden Gehorsam, mitunter aber auch aus bestimmten Interessenlagen, Recht gebeugt worden. Es wäre daher nur recht und billig, dass Österreich alles unternähme, um auf die völlige Rehabilitation der in Italien zu Unrecht Verurteilten und in aller Öffentlichkeit Stigmatisierten hinzuwirken. Wien sollte zudem offensiv gegenüber Rom auftreten, damit Italien seine diese Zeit betreffenden Archivalien freigibt und seiner moralischen Verpflichtung nachkommt, der Forschung die Möglichkeit zur Revision dieses von ihm unsäglich geklitterten Kapitels auch seiner eigenen politischen Geschichte zu gewähren. Schuldig wäre es dies sowohl den fremden wie den eigenen Opfern.
Wie Staaten usurpierte Völker zu entnationalisieren trachten, zeigt das Beispiel Italien-Südtirol
Alpini als Besatzer und Unterdrücker Foto: Archiv Golowitsch
„Um Völker auszulöschen, beginnt man damit, sie ihrer Erinnerung zu berauben. Man zerstört ihre Bücher, ihre Kultur, ihre Geschichte, ihre Symbole, ihre Fahne. Andere schreiben dann ihre Bücher, geben ihnen eine andere Kultur, erfinden für sie eine andereGeschichte und zwingen ihnen andere Symbole und eine andere Fahne auf. Danach beginnt das Volk zu vergessen, wer es gewesen ist, wenn nicht die geschichtliche Erinnerung von neuem geweckt wird.“
Als Gabriele Marzocco, der verstorbene wortmächtige Historiker und publizistische Streiter für die Wahrung ethnischer Identitäten zu dieser Feststellung gelangte, hatte er gewiss nicht allein seine neapolitanischen Mitbürger im Blick gehabt, für deren volkliche Eigenarten und Eigenständigkeit er sich in der von ihm gegründeten Zeitschrift „Nazione Napoletana“ vehement einsetzte. Selbstverständlich war ihm auch das Schicksal derer vertraut, die sich Italien insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg einverleibte und – ganz gleich, ob in Rom faschistische Schwarzhemden oder demokratische Weißhemden bestimmten – seiner rücksichtslosen Entnationalisierungspolitik mit dem Ziel der „ewigen Italianità“ unterzog.
Markantestes Beispiel dafür ist der südliche Landesteil Tirols, den es 1918 besetzte, wegen seines 1915 vollzogenen Seitenwechsels im schändlichen „Friedensvertrag“ von Saint- Germain-en-Laye 1919 als Kriegsbeute zugesprochen bekam und 1920 auch förmlich annektierte. Das faschistische Italien suchte dann ab Oktober 1922 alles auszumerzen, was zwischen Brenner und Salurn auch nur im Entferntesten an die in Jahrhunderten entstandene deutsch-österreichische kulturelle Prägung erinnerte. Denn wer dem eigenen fremdes Territorium einverleibt, muss der angestammten Bevölkerung die Identität rauben, soll die Annexion Bestand haben.
Der Entnationalisierung sind die zugefügten immateriellen Schäden auf Dauer besonders förderlich, wenn zuvorderst die Umbenennung von Namen, die an Orten, Plätzen, Siedlungen, Wegen, Bächen, Flüssen und Bergen haften, angeordnet und – bis hin zu Vor- und Familiennamen, selbst auf Grabstätten – unerbittlich durchgesetzt wird. Seit der Machtübernahme Mussolinis war Südtirol Exerzierfeld römischer „Umvolkungspolitiker“. Unter seinem Getreuen Ettore Tolomei, der dies an der Spitze einer Gruppe fanatischer geistiger Eroberer von Bozen aus ins Werk setzte, wurde bis zum zweiten Seitenwechsel
Italiens 1943 das gesamte Namensgut des „Alto Adige“ („Hoch-Etsch“) italianisiert. Mit den willkürlich gebildeten identitätsverfälschenden Namen sollte der fremdgeprägte Kulturraum nicht etwa nur geistig Italien unterworfen werden, sondern nach außen hin wurde der sprachliche Vergewaltigungsakt als „Re-Italianisierung“ ausgegeben.
Mitteilung der Zeitung „Der Landsmann“ (zuvor „Der Tiroler“) vom 24. Oktober 1925 über den zwingend vorgeschriebenen Gebrauch der italienischen Ortsnamens-Erfindungen. Foto: Archiv Golowitsch
Dafür musste, neben dem prinzipiellen Verbot der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit, in Ämtern, auf Behörden, in Zeitungen, Zeitschriften und sonstigen Publikationen, vor allem das Schulwesen herhalten, wo der faschistisch-brachiale Umerziehungsfuror am rigorosesten wütete. Die von einer Autorengruppe unter Ägide des vom Verein Südtiroler Geschichte zusammengestellte und in einem im effekt!-Verlag (Neumarkt/Etsch) unlängst als Buch erschienene Dokumentation, veranschaulicht dies, versehen mit aussagestarken authentischen Beispielen, die auch für Gegenwart und Zukunft Mahnung sind, auf prägnante Weise. Im Buchtitel „Die Deutschen brauchen keine Schulen“ steckt der Hauptteil einer bereits ein Jahr nach der Einverleibung Südtirols in den italienischen Staatsverband vom damaligen
italienischen Vizepräfekten der Provinz Bozen, Giuseppe Bolis, getätigten symptomatischen Äußerung, die gleichsam als Richtlinie für das faschistische Erziehungswesens galt: „Die Deutschen brauchen keine Schulen, und wir brauchen auch keine Deutschen“.
Als sich alle kolonialistischen Zwangsmaßnahmen, die Bevölkerung des „Hochetsch“ („Alto Adige“, gemäß damals verordneter, alleingültiger Benennung) zu assimilieren, als fruchtlos erwiesen, zwangen die „Achsenpartner“ Mussolini und Hitler die Südtiroler in einem perfiden Abkommen, entweder für das Reich zu optieren und über den Brenner zu gehen oder bei Verbleib in ihrer Heimat schutzlos der gänzlichen Italianità anheim zu fallen. Obschon die meisten für Deutschland optierten, verhinderte der Zweite Weltkrieg die kollektive Umsiedlung. 1946 lehnten die Alliierten die Forderung nach einer Volksabstimmung in Südtirol ab. Woraufhin sich in Paris die Außenminister Österreichs und Italiens auf eine Übereinkunft verständigten, von welcher Bozen, Innsbruck und Wien die verbriefte Gewähr für die autonome Selbstverwaltung des Gebiets sowie den Erhalt der Tirolität seiner Bevölkerung gesichert wissen glaubten.
Doch Alcide DeGasperi bog die im Abkommen mit Karl Gruber vom 5. September 1946 gegebenen Zusagen so um, dass die versprochene Autonomie nicht speziell für die Provinz Bozen, sondern für die Region Trentino-Alto Adige galt, in die beide Provinzen verbunden wurden. Das schiere Übergewicht des italienischen Bevölkerungselements bewirkte zwangsläufig die Majorisierung des deutsch-österreichischen sowie des ladinischen Tiroler Volksteils und führte die für Bozen eigenständig auszuüben versprochene politisch- administrative und kulturelle Selbstverwaltung ad absurdum.
Das Niederhalten der Südtiroler – dokumentiert anhand bislang unveröffentlichter Zeugenberichte
Schon als sich die Niederlage NS-Deutschlands in Umrissen abgezeichnet hatte, setzten im Gebiet der „Operationszone Alpenvorland“, zu der das südliche Tirol nach Absetzung Mussolinis und Seitenwechsels Italiens 1943 gehörte, italienische Partisanen aus dem „befreiten Italien“ alles daran, Fakten zu schaffen, welche von vornherein für die Zeit nach Kriegsende den Verbleib Südtirols im Stiefelstaat gewährleisten sollten. Es ist das bleibende Verdienst des Historikers Helmut Golowitsch, anhand einer Fülle archivierten Materials in seinem soeben erschienenen Buch „Repression. Wie Südtirol 1945/46 wieder unter das Joch gezwungen wurde“ (Neumarkt/Etsch, Effekt! Verlag 2020, ISBN-9788897053682) eindrücklich und mustergültig dokumentiert zu haben, wie diese Insurgenten operierten, um die Südtirol-Frage auf ihre Art und Weise ein für alle Mal zugunsten des abermaligen Kriegsgewinnlers Italien zu beantworten.
Bislang unbekannte Berichte betroffener Terror-Opfer, welche damals von Pfarrämtern und SVP-Ortsgruppen protokolliert und als Originale oder Kopien auf gefährlichen Wegen über die Berge nach Nordtirol gebracht worden waren. Foto: Archiv Golowitsch
Man fragt sich, warum diese zum einen im Bozner, zum andern im Innsbrucker Landesarchiv sowie nicht zuletzt im Österreichischen Staatsarchiv zu Wien frei zugänglichen Sammlungen authentischer Berichte aus dem während des faktischen „Interregnums“ von massiven Repressalien überzogenen südlichen Landesteil Tirols sich unbesehen in dunklen Archivmagazinen befanden, bis sie der Publizist ans Licht hob, minutiös aufbereitete und 75 Jahre nach Kriegsende der (zumindest interessierten) Öffentlichkeit jetzt präsentiert. Und kann sich eigentlich nur eine naheliegenden Antwort geben, nämlich dass die herkömmliche (und zumindest in Teilen ideologisch dogmatisierende universitäre) Zeitgeschichtsforschung zum Südtirol-Konflikt dieses authentischen Quellenmaterial ignorierte, weil dessen bestürzender Inhalt der in der Zunft dominanten zeitgeistigen politisch-korrekten „Opinio comunis“, insbesondere hinsichtlich einer quasi kanonisierten Betrachtungen über „bella Italia“, zuwiderläuft.
Wie stellt sich nun das Ergebnis der Kärrnerarbeit Golowitschs für uns Nachgeborene dar, und welche gewinnbringende Erkenntnis vermögen wir daraus zu ziehen? Gegen Kriegsende keimte in Südtirol die Hoffnung auf Wiederangliederung an Nord- und Osttirol und damit auf Rückkehr zu Österreich. Alle Kundgebungen, auf denen diesem Wunsch Ausdruck gegeben werden sollten, liefen den Interessen der westlichen Siegermächte zuwider, die, den niedergehenden „Eisernen Vorhang“ und den auf Stalins rigider Machtpolitik zur Absicherung des Moskowiter Vorhofs dräuenden Ost-West-Konflikt vor Augen, Italien, wo zudem die KPI zusehends an Anhängerschaft gewann, in ein Bündnis einbauen wollten, weshalb insbesondere Washington die römische Politik tatkräftig unterstützte. Mithin unterlagen in Südtirol alle Bemühungen, dem Wiedervereinigungsverlangen öffentlich Stimme und Gewicht zu verleihen, den vom amerikanischen Militär angeordneten Kundgebungsverboten. Überdies wurden alle Versuche, die zum Ziel hatten, weithin vernehmlich einzutreten für die Selbstbestimmung und für das Recht, sie zu ermöglichen, durch behördlich geduldete Terroraktionen gegen die Bevölkerung unterbunden.
Terror durch „Nachkriegspartisanen“ und uniformierte Plünderer
An massiven Übergriffen auf Proponenten von Selbstbestimmung und Rückgliederung sowie gegen die prinzipiell zu Nazis gestempelten deutsch- österreichischen und ladinischen Bevölkerungsteile Südtirols waren neben marodierenden und gleichsam in Banden umherziehenden Trägern italienischer Uniformen vor allem auch Angehörige des sich „antifaschistisch“ gebenden italienischen Befreiungsausschusses CLN (Comitato di Liberazione Nazionale) beteiligt. In dessen „Resistenza“-Formation reihten sich vormalige Faschisten ein, die rasch die Montur, aber nicht die Stoßrichtung gewechselt hatten, nämlich die beschleunigte Fortführung der Unterwanderung mit dem Ziel der unauslöschlichen Verwandlung Südtirols in einen in jeder Hinsicht rein italienischen Landstrich.
Italienische Bewaffnete zu Kriegsende – unter ihnen zahlreiche „Nachkriegspartisanen“
Im Mittelpunkt der Publikation Golowitschs stehen daher die gegen Personen(gruppen) und Sachen verübten Gewalttaten sowie die im südlichen Tirol zwischen (den Wirren und der eher unübersichtlichen Lage bis zum) Kriegsende 1945 und der Entscheidung der alliierten Außenminister vom 1. Mai 1946, die Forderung Österreichs nach Rückgliederung Südtirols abzuweisen, insgesamt obwaltende Repression. „Nachkriegspartisanen“ sowie Gewalttäter aus den Reihen des die amerikanischen Besatzungstruppen ablösenden italienischen Militärs, wie etwa der „Kampfgruppe Folgore“ und der „Kampfgruppe Friuli“, bedrohten die deutsche und ladinische Bevölkerung, plünderten, raubten, mordeten ungesühnt und hielten damit die aus persönlichem Erleben wie kollektiver Erfahrung seit 1918 eher verängstigte Südtiroler Bevölkerung nieder.
Soldaten der Kampfgruppe „Folgore“ ( „Blitz“) Fotos: Archiv Golowitsch
Mit sozusagen von oben begünstigtem, weil staatlich gebilligtem Terror konntedaher im „demokratischen Italien“ die nahezu bruchlose Fortführung derfaschistischen Politik einhergehen.
Es gab eine Reihe Südtiroler Mordopfer. Die an ihnen begangenen Untaten wurden nie gesühnt. Foto: Archiv Golowitsch
Die Refaschisierung des Landes
Frühere Faschisten wurden weithin in ihre vormals bekleideten Ämter und Funktionen wiedereingesetzt, sodass sich im öffentlichen Leben allmählich eine faktische Refaschisierung einstellte. Golowitschs Dokumentation fördert klar zutage, wie eben just ab 1945 die römische Zwischenkriegspolitik des Ethnozids im neuen, aber kaum anders gestrickten Gewande fortgesetzt wurde. Deren Bestimmung war es, durch staatlich geförderte Zuwanderung aus dem Süden Italiens die zuvor von Mussolini und seinen Getreuen bis an die „Grenze des Vaterlandes“, wie es das geschichtsfäl-schende faschistische „Siegesdenkmal“ in Bozen propagiert, ins Werk gesetzte Auslöschung der deutschen und ladinischen Teile des Tiroler Volkskörpers zu vollenden und das Land an Eisack und Etsch gänzlich der Italianità anzuverwandeln.
Um nur eines von vielen markanten Beispielen aus der Fülle der in der Dokumentation ausgebreiteten zeitgenössischen Zeugnisse zu nennen, sei hier jener aufschlussreiche Vermerk vom September 1945 erwähnt, worin es heißt, die am 8. Mai 1945 gegründete (und bis heute im Lande dominante) Südtiroler Volkspartei (SVP) habe wöchentlich mehrere Überfälle, Diebstähle, Raub, Plünderung und Mord bezeugende Tatberichte erhalten. Der „Volksbote“, das SVP-Parteiorgan, meldete am 21. März 1946, in einer einzigen Eingabe an die zuständigen Behörden seien 60 teils blutige, teils unblutige Überfälle aufgezählt gewesen.
Sich duckende politische Führung – der Klerus auf Seiten des Volkes
Zu denen, die derartige Geschehnisse ereignis- und ablaufgetreu wiedergaben sowie nicht selten selbst schriftlich festhielten, in Berichtsform abfassten und an sichere Gewährsleute übergaben, die sie nach Innsbruck brachten, gehörten in vielen Fällen katholische Geistliche.
Nahezu alle Ortspfarrer Südtirols sammelten und unterschrieben Petitionen, in denen dieWiedervereinigung Tirols und die Rückkehr zu Österreich gefordert wurde. Fotos: Archiv Golowtisch
Indes fördert Golowitschs Publikation auch von Ängstlichkeit, Unterwerfung und Arrangement hervorgerufene Leisetreterei zutage, die sich nicht anders denn alspolitisches Fehlverhalten charakterisieren lässt. So fürchteten Parteigründer und erster SVP-Obmann Erich Amonn und sein Parteisekretär Josef Raffeiner eigenerAussage zufolge für den Fall, dass sie die ihnen aus Ortsgruppen ihrer Partei zugegangenen Tatberichte öffentlich gemacht hätten, Anklage und Verurteilung wegen des strafbewehrten Delikts „Schmähung der italienischen Nation und der bewaffneten Streitkräfte“ aus dem trotz Regimewechsels nach wie vor in Kraft befindlichen faschistischen „Codice Penale“. Weshalb Sie die Berichte zwar verwahrten, aber verschwiegen. Selbst Vertreter der alliierten Siegermächte, die ja der Form nach die eigentliche Gewalt im Lande hätten innehaben und ausüben müssen, wozu gehört hätte, die offenkundigen italienischen Umtriebe zu unterbinden, setzten sie nur mündlich davon in Kenntnis und konnten allenfalls ein Achselzucken erwarten.
Dasselbe gilt, wie Golowitsch darlegt, auch für Politiker der unter Viermächte-Statut deralliierten Besatzer stehenden und zwischen 27. April und 20. Dezember 1945 gebildeten Provisorischen Regierung zu Wien, der, unter Leitung des sozialistischen Staatskanzlers Karl Renner zu gleichen Teilen Vertreter von ÖVP, SPÖ und KPÖ angehörten. Und ganz besonders gilt es für die aus der ersten Nationalratswahl (25.11.1945) hervorgegangene und vom 20. 12. 1945 bis 8.11. 1949 amtierende Regierung unter ÖVP-Kanzler Leopold Figl mit sieben Ministern der ÖVP, fünf Ministern (ab 24.11.1947 deren sechs) der SPÖ und (bis 24.11.1947) einem von der KPÖ gestellten Minister.
Viele der Berichte über die Vorgänge in Südtirol gelangten im Original oder in Abschrift nach Nordtirol und von dort auch zur Kenntnis der in Wien Regierenden, zumal da der auf das Engste mit der Causa „Zukunft Südtirols“ vertraute Außenminister Karl Gruber (ÖVP) Tiroler (mit Wohnsitz in Innsbruck) war. In Wien machte man, auf die Wünsche vor allem der amerikanischen und britischen Besatzungsmächte Rücksicht nehmend, die ja mit den Kommandantura-Sowjets – als den misstrauischsten und sich stets als gegnerische Macht gebärdenden Besatzern – auskommen mussten, den Inhalt der Südtiroler Berichte nicht zugänglich, um öffentliche Sympathiebekundungen für die Südtiroler und eventuell damit verbundene Aufwallungen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Am 5. September 1946, wenige Monate nach Amtsantritt Figls, traf Gruber in Paris jene Vereinbarung mit DeGasperi, die für den von den Siegermächten bestimmten Verbleib Südtirols bei Italien und die damit eingeläutete Nachkriegsentwicklung maßgeblich sein sollte.
Fazit: Wer die dadurch und in den Folgejahren hervorgerufenen Enttäuschungen der Südtiroler ob ihrer neokolonialistischen Unterjochung durch Rom und ihre zunächst hilflose Wut bis hin zur auch gewaltbereiten und gewalttätigen Auflehnung idealistischer Aktivisten des Befreiungsausschusses Südtirol (BAS) vom Ende der 1950er bis hin in die 1970er Jahre sozusagen von der Wurzel her begreifen will, kommt an Golowitschs höchst ansehnlicher und zutiefst beeindruckender Dokumentation nicht vorbei.
Seit der in mehreren Auflagen erschienenen grundlegenden Buchpublikation „Die Volksgruppen in Europa“ https://www.verlagoesterreich.at/die-volksgruppen-in-europa-pan/pfeil/videsott-978-3-7046-7224-7 für die drei namhafte Experten des in Bozen beheimateten Südtiroler Volksgruppen-Instituts verantwortlich zeichnen, wissen alle, die es wissen wollen, dass zwischen Atlantik und Ural 768 Millionen Menschen in 47 Staaten leben, wovon 107 Millionen – mithin jeder siebte Bewohner Europas – Angehörige von Minderheiten sind.
Südtiroler und Venetianer bekunden: Süd-Tirol und Veneto sind nicht Italien Foto: SHB
Bei diesen Minoritäten handelt es sich nicht um „moderne“ Erscheinungen wie Angehörige gesellschaftlicher oder sexueller Randgruppen, die heute aufgrund angenommener oder tatsächlich vorhandener Diversitätsmerkmale die politisch-publizistische Mainstream-Aufmerksamkeit genießen. Es handelt sich auch nicht um Minderheiten, die aufgrund von Anwerbung („Gastarbeiter“) oder Migration in ihre Wohnsitzländer gekommen sind und dort auf politische Anerkennung und rechtliche Fixierung eines beanspruchten Minderheitenstatus aus sind. Nein, es handelt sich um autochthone, historisch verwurzelte ethnische sowie sprachkulturell und/oder religiös von ihren eigentlichen nationalen Gemeinschaften getrennte und damit in fremdnationaler Umgebung, sohin unter den dortigen Staatsnationen, zu leben gezwungene Minderheiten, die oft auch als Volksgruppen bezeichnet werden.
Europa ist überaus reich an Völkern, Volksgruppen, Kulturen und Sprachen; sie sind sozusagen konstitutives Element des Kontinents. Dies gilt zuvorderst auch für die 27 (Noch-)Mitgliedstaaten von EUropa, in denen sich seit langem und immer wieder Minoritäten zu Wort melden, die nicht nur sprachlich-kulturelle und religiöse Eigenheiten, sondern ihre gesamte gesellschaftlich-rechtliche Existenz durch Maßnahmen ihrer „Wirtsnationen“ bedroht sehen, welche auf Akkulturation, Assimilation und in letzter Konsequenz auf Entnationalisierung respektive Homogenisierung ausgerichtet sind.
Zur Sicherung ihrer Existenz und zur Erhaltung ihrer (Eigen-)Art, somit ihrer nationalkulturellen/nationalreligiösen Identität, bedürfte es einer Ergänzung der in der Menschenrechtscharta sowie Verfassungen verbürgten Gleichberechtigung der Individuen durch das „Prinzip der Gleichberechtigung von Völkern und Ethnien“. Wenngleich damals rigorose Vertreter des aufwallenden Nationalismus larmoyant vom „Völkerkerker“ schwadronierten, kannte just das alte Österreich-Ungarn dieses Prinzip und verfuhr danach.
Fehlender Volksgruppenschutz
Für die heutigen Verhältnisse in EU-Staaten mit immer wieder auftretenden Nationalitätenkonflikten – ich nenne hier stellvertretend für viele andere nur Basken/Katalanen in Spanien bzw. Flamen/Wallonen in Belgien – wären Instrumente zur Verwirklichung gleichberechtigter „nationaler Partnerschaften“ aus Mehrheit(sstaatsvolk) und nationaler/nationalen Minderheit/en nicht nur geeignet, sondern geradezu eine Art „Befreiungsschlag“. Notwendig wären in der EU übernational geltende, kollektive Volksgruppen(schutz)rechte, mithin Rechtsinstrumentarien für autochthone Minderheiten, und das Zugestehen von (Territorial-, Kultur- bzw. Personal- und/oder Lokal-)Autonomie, gebunden an statutarisch geregelte Formen von Selbstverwaltung.
Nichts dergleichen ist in zentralstaatlich organisierten und regierten Staaten EUropas auch nur ansatzweise denkbar. Wenn beispielsweise die ethnischen Ungarn in Siebenbürgen (Rumänien) Autonomie etwa nach Maßstäben der Selbstverwaltung verlangen, wie sie die Südtiroler (nach erbitterten Kämpfen mit dem römischen Zentralstaat) in Gestalt einer Autonomen Provinz errangen, so werden sie von allen nationalrumänischen Kräften des Landes, ganz gleich, ob sie in Bukarest regieren oder opponieren, des Separatismus und des Revisionismus bezichtigt. Von Beginn an, also seit den Römischen Verträgen von 1957, hat sich das supranationale Gebilde, das heute unter „Europäische Union“ (EU) firmiert, nicht um Minderheiten-Fragen gekümmert, sondern sie – bequemerweise – zum Objekt institutioneller Zuständigkeit des Europarats erklärt und damit kurzerhand ignoriert.
Zentralstaatliche Bremser, linke Utopisten
Das kam/kommt nicht von ungefähr. Nachgerade am Verhalten einiger westeuropäischer Regierungen gegenüber den Selbständigkeitsbestrebungen der Slowenen und Kroaten, aber auch der Esten, Letten und Litauer (vor der völkerrechtlichen Anerkennung ihrer staatlichen Gemeinwesen, ja mitunter auch noch danach) war im Gefolge von Umbruch und Zeitenwende 1989/90 augenfällig geworden, dass die Furcht vor Separatismus im eigenen Lande das Handeln bestimmte. Dies rührte von der sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst verbreitenden Zuversicht her, wonach im Zuge der Europäisierung die Nationalstaaten allmählich verschwänden und somit die „nationale Frage“ gleichsam als Erscheinung des 19. Jahrhunderts überwunden würde.
Vor allem Linke, Liberale und Grüne, mitunter auch Christdemokraten in West- und Mitteleuropa leisteten mit der theoretisch-ideologischen Fixierung auf die Projektion der „multikulturellen Gesellschaft“ einer geradezu selbstbetrügerischen Blickverengung Vorschub, indem sie vorgaben, mit deren Etablierung sei die infolge zweier Weltkriege entgegen dem Selbstbestimmungsrecht erfolgte Grenzziehung quasi automatisch aufgehoben. Dabei hatte just die machtpolitische Ignoranz historisch-kulturräumlicher Bindung, ethnischer Zusammengehörigkeit sowie der gewachsenen Sprachgrenzen insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg zu spezifischen Minderheitensituationen geführt, deren Konfliktpotential bis in unsere Tage fortwirkt.
Frankreich gilt geradezu als Inkarnation des nationalstaatlichen Zentralismus. Weshalb viele der 370.000 Bretonen mit Sympathie die nach dem Brexit wieder vernehmlicher werdenden Töne der schottischen Unabhängigkeitsbewegung verfolgen, welche im Referendum 2014 nur knapp gescheitert war. Ähnliches gilt für die 150.000 Korsen.
Katalanen-Kundgebung für Unabhängigkeit von Spanien Foto: SHB
Unabhängigkeitsverlangen
In Spanien bekunden besonders die gut 8 Millionen Katalanen (in Katalonien, Valencia und Andorra) sowie 676.000 Basken (im Baskenland und in Navarra) immer wieder machtvoll ihren Willen, die Eigenstaatlichkeit zu erlangen. Davon wäre naturgemäß auch Frankreich betroffen, denn jenseits der Pyrenäen, im Pays Basque, bekennen sich gut 55.000 Menschen zum baskischen Volk. Der 2015 von der baskischen Regionalregierung verabschiedete Plan „Euskadi Nación Europea“ enthält das Recht auf Selbstbestimmung und sieht ein bindendes Referendum vor.
In Belgien hat sich der (nicht nur sprachliche) Konflikt zwischen niederländischsprachigen Flamen und französischsprachigen Wallonen seit den 1990er Jahren zu einer latenten institutionellen Krise ausgewachsen. Von den 5,8 Millionen Flamen (52,7 Prozent der Bevölkerung), die sich ökonomisch gegen die Alimentierung der „ärmeren“ Wallonie (3,9 Millionen Wallonen; 35,8 Prozent der Bevölkerung) wenden und zusehends für die Eigenstaatlichkeit eintreten, sprechen sich die wenigsten für den Erhalt des belgischen Zentralstaats aus.
Die deutschsprachige Gemeinschaft, ein von 87.000 Menschen (0,8 Prozent der Bevölkerung Belgiens) bewohntes Gebilde mit autonomer politischer Selbstverwaltung, eigenem Parlament und eigener Regierung, entstanden auf dem nach Ende des Ersten Weltkriegs abzutretenden Gebiet Eupen-Malmedy, gehört zwar formell zur Wallonie, hält sich aber aus dem flämisch-wallonischen Konflikt weitgehend heraus.
Außerhalb Italiens werden die Unabhängigkeitsverlangen im Norden des Landes meist unterschätzt und weitgehend ausgeblendet. Die politische Klasse in Rom muss hingegen angesichts regionaler Erosionserscheinungen befürchten, dass Bestrebungen, sich von Italien zu lösen, an Boden gewinnen. So beteiligten sich im Veneto 2,36 Millionen Wahlberechtigte (63,2 Prozent der regionalen Wählerschaft) an einem Online-Referendum zum Thema Unabhängigkeit Venetiens, von denen 89,1 Prozent – das waren immerhin 56,6 Prozent aller Wahlberechtigten – auf die Frage „Willst Du, dass die Region Veneto eine unabhängige und souveräne Republik wird?“, mit einem klaren „Ja“ antworteten.
In der lombardisch-„padanischen“ Nachbarschaft zündelt die Lega immer wieder mit Unabhängigkeitsverlangen und strebt ein aus der Lombardei, Piemont und Venetien zu bildendes Unabhängigkeitsbündnis an, das derzeit „pausiert“, weil die Führungsgestalt Matteo Salvini aufgrund politischer Fehleinschätzung seiner „gesamtnationalen Zugkraft“ politisch ins Hintertreffen geraten ist.
Die EU hat – via Entwicklungsschritte EWG und EG – also keine wirklich substantiellen Volksgruppen-Schutzmaßnahmen ergriffen, weil zentralistisch organisierte Nationalstaaten wie Frankreich, Italien, Spanien, Rumänien, um nur die ärgsten Bremser zu nennen, deren Begehr prinzipiell ablehnend gegenüberstehen. Besonders bezüglich Rumänien ist beispielsweise darauf zu verweisen, dass das Verlangen der ungefähr 1,4 Millionen ethnischen Ungarn – und insbesondere der rund 700.000 Székler – nach Autonomie von der gesamten politischen Klasse des Staatsvolks sofort als Sezessionsbegehr und „Revision von Trianon“ gebrandmarkt wird. Gemäß dortigem Friedensdiktat hatte Ungarn 1920 zwei Drittel seines Territoriums verloren.
Frankreich (am 7. Mai 1999) und Italien (am 27. Juni 2000) haben zwar die 1992 vom Europarat verabschiedete und – bezogen auf die realen Auswirkungen für die jeweiligen Staatsnationen – relativ „harmlos“ bleibende „Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ unterzeichnet; ratifiziert und in Kraft gesetzt wurde sie bis zur Stunde von beiden Staaten nicht.
Solange das Manko aufrecht ist, dass die „kleinen Völker“ respektive „kleinen Nationen“ (als die sich nationale Minoritäten/Volksgruppen gerne nennen, weil sie sich als solche verstehen), in jenen Staaten, in denen sie daheim sind, der kollektiven Schutzrechte entbehren, so lange werden sie für diese ein nicht zu unterschätzender Unruhefaktor sein. Enttäuscht sind sie von der EU, von der sie sich in gewisser Weise „Erlösung“ erhoff(t)en. Denn abgesehen von dem den Volksgruppen vom Europäischen Parlament 1991 deklaratorisch zugestandenen „Recht auf demokratische Selbstverwaltung“, womit „kommunale und regionale Selbstverwaltung beziehungsweise Selbstverwaltung einzelner Gruppen“ zu verstehen ist, und abgesehen vom 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon, mithilfe dessen erstmals die „Rechte der Angehörigen von Minderheiten“ (als Teil der Menschenrechte) als Artikel 2 EUV in den sogenannten „EU-Wertekanon“ aufgenommen worden sind, hat sich just das supranationale Gebilde EU als solches den im Zentrum der Bedürfnisse aller nationalen Minderheiten stehenden überindividuellen, also kollektiv einklagbaren Schutzrechten weithin entzogen.
„Erhaltung regionaler Kulturen“
Alldem soll nun eine „Europäische Bürgerinitiative“ abhelfen. Sie ging ursprünglich von den in Siebenbürgen beheimateten Széklern, einem alteingesessenen magyarischen Volksstamm, aus, und hat als „Initiative zur Erhaltung der regionalen Kulturen“ bislang mehr als 1,2 Millionen zustimmende Unterschriften gesammelt. Zunächst wollte die EU-Kommission diese Initiative nicht nur abwürgen, sondern gar nicht erst zulassen. Unterstützt von der Regierung Orbán verklagten die Organisatoren die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof und erhielten recht, woraufhin Brüssel genötigt war, die Angelegenheit zu genehmigen.
Die Organisatoren hoffen, bis zum Fristablauf ihres politischen Unterfangens (7. November 2020) zwei Millionen Unterschriften bzw. über den Internet-Link https://eci.ec.europa.eu/010/public/#/initiative zu erlangende Zustimmungs-erklärungen aus insgesamt mindestens sieben EU-Mitgliedstaaten vorlegen zu können. Vorerst fehlt noch in vier von sieben Ländern die erforderliche Mindestanzahl von Unterschriften, wohingegen in Ungarn, in Rumänien sowie in der Slowakei schon weit mehr als das jeweilige Quorum erreicht ist. Die Initiatoren setzen daher nunmehr vornehmlich ihre Hoffnungen auf weitere Zustimmung aus Irland, Schweden, Dänemark, Deutschland, Österreich und Italien, wo nicht zuletzt aus Südtirol viel Sympathie zu erwarten sein dürfte.
Zwiespältige Erinnerung an die Wiedervereinigung Deutschlands, das Trianon-Trauma Ungarns, den Erhalt der Landeseinheit Kärntens sowie die Annexion des südlichen Tirol durch Italien
Plakataktion „100 Jahre Unrecht….“ des SHB
Der Oktober 2020 zwingt zur Vergewisserung bedeutender Ereignisse, die auf das engste miteinander korrespondieren. Wenngleich nicht auf den ersten Blick zu erkennen, so besteht zwischen der Erinnerung an 30 Jahre Vereinigung der beiden deutschen Rumpfstaaten BRD und DDR, an 100 Jahre Kelsen-Verfassung für Österreich, an 100 Jahre Volksabstimmung in Kärnten, an die territoriale Kastration Ungarns sowie an die formelle Annexion des südlichen Teils des einstigen Kronlandes Tirol durch Italien eine – wenn auch kontrastive, so doch – innere Verbindung.
Die Wiedervereinigung Deutschlands war die glückliche Antwort auf die seit 1945 stets im politischen Raum stehende „Deutsche Frage“. Möglich wurde die deutsche Einheit durch Erosion und Auflösung des Ostblocks zufolge der Implosion des sowjetkommunistisch-moskowitischen sowie des titoistisch-balkankommunistischen Herrschaftssystems und der zwischen Usedom (Mecklenburg-Vorpommern) und Eichsfeld (Thüringen) raumgreifenden „Abstimmung mit den Füßen“
Die von dem bedeutenden Völker- und Staatsrechtler Hans Kelsen entworfene Bundesverfassung, auf die Österreich(er) zurecht stolz ist (sind), manifestierte die Ablösung des über Jahrhunderte bestimmenden monarchischen Herrschaftsprinzips durch den republikanisch-demokratischen Rechtsstaat. Sie markiert(e) damit aber auch die Reduktion des einstigen Staatsgebiets infolge der für die Verlierer des Ersten Weltkriegs in den 1919/1920 unterzeichneten Pariser „Vorortverträgen“ von den Siegermächten, insbesondere von Frankreich, „friedensvertraglich“ diktierten territorialen und materiellen Verluste.
Kärnten, wo die Siegermächte auf amerikanischen Druck hin am 10. Oktober 1920 eine Volksabstimmung erlaubt hatten, entging – maßgeblich zufolge des mehrheitlichen Votums der slowenischen Minderheit Südkärntens für Verbleib bei Österreich – der vom jugoslawischen SHS-Staat (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) verlangten Landesteilung. Ohne Volksabstimmung wurden hingegen per Vertrag von Saint-Germain-en-Laye (1919) das Mießtal dem SHS-Staat sowie das Kanaltal Italien übereignet.
Die Teilung Tirols
Von dem, was nach kriegsbedingter Auflösung des vormaligen österreichisch-ungarischen Imperiums durch die Herausbildung neuer Nationalstaaten an territorialer Substanz für die zunächst an ihrer Existenzfähigkeit zweifelnde Republik (Deutsch-)Österreich verblieb, war die erzwungene Abtretung Südtirols (mitsamt Welschtirol/Trentino) an Italien zweifellos das für das kollektive Bewusstsein der ohnedies notleidenden Bevölkerung einschneidendste Ereignis. Das Zerreißen Tirols, die formelle Annexion des südlichen Landesteils am 10. Oktober 1920, kontrapunktorisch und deklarativ just am Tag der Kärntner Volksabstimmung vollzogen, ist und bleibt, wie der in nämlichem Jahr am 4. Juni im Friedensdiktat von Trianon bestimmte Verlust Ungarns von zwei Dritteln (sic!) des Territoriums, eine Wunde, die nicht verheilen kann – denn damit sind nicht nur Menschen- und Selbstbestimmungsrechte verletzt worden, sondern Völker und Seelen.
„Bella Italia“, das von alters her die Sehnsüchte sonnenhungriger nördlicher Hemisphärenbewohner beflügelnde „Land, wo die Zitronen blühen“ (Goethe), muss sich all seinen heutigen beschönigenden und begütigenden politischen Parolen zum Trotz gefallen lassen, nicht allein von historisch bewussten Betrachtern der „Südtirol-Causa“ als hinterhältiger, sich verstellender politischer Akteur eingestuft zu werden. Schon Bismarck ließ mit seiner Bemerkung nach der quasi parallel vollzogenen Einigung Italiens, die ja erst mit der „Presa di Roma“, der Einnahme der Ewigen Stadt 1870, vollendet war, und der maßgeblich von ihm herbeigeführten Reichsgründung 1870/71 aufhorchen, im Gegensatz zum „satten“ (saturierten) preußisch-deutschen Kaiserreich sei das sardinisch-toskanisch-sizilianische Königreich Italien ein „hungriger“ Staat. „Italien hat einen großen Appetit, aber sehr schlechte Zähne“, bemerkte der Reichskanzler über seinen damaligen Verbündeten.
„Großer Appetit, schlechte Zähne“
Vielfach lieferte Italien hernach Beweise für Bismarcks abfälliges Diktum. Um seinen nationalromantisch verbrämten, quasi der Idee des „Imperium Romanum“ verschriebenen und von „sacro egoismo“ („heiligem Eigennutz“) getriebenen „Hunger“ nach territorialer Ausweitung am adriatischen Gegenufer, in Nord(ost)afrika sowie nicht zuletzt entlang der alpinen Wasserscheide zu stillen und stets zielgerichtet auf „Siegesspur“ und Sieger-Seite zu sein, wechselte es nach Belieben die Fronten.
Südtirol war das kontinentale „Tortenstück“ dieses dem Macht- und Landhunger geschuldeten Seitenwechsels von 1915. Das Gebiet zwischen dem heutigen Salurn und dem Brenner-Pass rundete das Risorgimento-Begehr Welschtirol / Trentino, zuvor Bestandteil Gesamttirols, nach Norden hin bis zur stets von den italienischen Nationalisten eingeforderten Grenzziehung an der Wasserscheide ab. Dafür hatte die Königlich Geographische Gesellschaft das geophysikalische Rüstzeug geliefert, der auch jener Deutschenhasser Ettore Tolomei angehörte, der mit der von faschistischen Gewalttaten auch in Bozen begleiteten Machtübernahme ab 1922 Mussolini als Entnationalisierungsfanatiker im südlichen Tirol (kultur)geschichtsfälschend dienstbar war.
Nichts von dem, was der einstige Ministerpräsident Luigi Luzzatti nach der Unterzeichnung des Friedensdiktats von St.Germain (10. September 1919) im römischen Parlament sagte – „Es muß eine Ehrenpflicht für die Regierung und für das Parlament sein, den Deutschen, die nur wegen der absoluten Notwendigkeit, unsere Grenzen verteidigen zu können, angegliedert wurden, ihre autonomen Einrichtungen zu bewilligen“ – wurde zugestanden. Im Gegenteil: selbst die trientinischen (Welsch-)Tiroler Reichsratsabgeordneten Enrico Conci und Alcide DeGasperi – er sollte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als den Südtirolern wiederum die Selbstbestimmung verweigert wurde, abermals eine verhängnisvolle Rolle spielen – schlugen Töne an, welche sich nicht im geringsten von jenen der Schwarzhemden unterschieden. So schrieb DeGasperi in einem Artikel unter dem Titel „Tirolo addio“, der am 4.12.1918 in der von ihm herausgegebenen Zeitung „Il Nuovo Trentino“ erschien: „Tiroler, euer Leben war unser Tod, nun wird unser Leben euer Tod sein.“
Der faschistische Furor
Mit dem ersten von faschistischen Schlägertrupps am 24. April 1921 in Bozen Getöteten, dem Marlinger Lehrer Franz Innerhofer, nahm die Knechtschaft der Südtiroler ihren Lauf. Benachteiligung, Erniedrigung, Drohungen, Gewalt, Folter, Mord waren sozusagen an der Tagesordnung. Geschichtsfälschungen und die Italianisierung von Vor- und Familiennamen (bis hin zu jenen auf Grabsteinen) sowie von Orts- und Flurnamen, Verbot öffentlichen Gebrauchs der deutschen Sprache, verbunden mit der massenhaften Ansiedlung von ethnischen Italienern in den eigens aus dem Boden gestampften Industrie- und Gewerbezonen, mit der Zerschlagung von Vereinen und Verbänden mittels Verbots sowie der Installation rein italienischer Strukturen, dem Ersatz gewählter Ortsvorsteher durch faschistische Amtsbürgermeister, dem Austausch des für Sicherheit und Ordnung zuständigen Personals sowie der Kujonierung von Medien und Kultureinrichtungen, schließlich der Errichtung des unsäglichen „Siegesdenkmals“ und vielem mehr hatten zum Ziel, den südlichen Teil Tirols in eine rein italienische Provinz zu verwandeln.
Am rigorosesten wütete der faschistische Umerziehungsfuror an den Schulen. In einer höchst ansprechenden, sachkundigen Dokumentation, die der Verein Südtiroler Geschichte zusammenstellte und soeben im effekt!-Verlag (Neumarkt/Etsch) erschien (http://effekt-shop.it/shop/buecher/die-deutschen-brauchen-keine-schulen/ ) ist luzide veranschaulicht, was unter der bereits ein Jahr nach der Einverleibung Südtirols in den italienischen Staatsverband vom damaligen italienischen Vizepräfekten der Provinz Bozen, Giuseppe Bolis, getätigten Aussage zu verstehen gewesenen Richtlinie des faschistischen Erziehungswesens gemeint war: „Die Deutschen brauchen keine Schulen, und wir brauchen auch keine Deutschen“.
Als sich alle kolonialistischen Zwangsmaßnahmen, die Bevölkerung des „Hochetsch“ („Alto Adige“, gemäß damals verordneter, alleingültiger Benennung) zu assimilieren, als fruchtlos erwiesen, zwangen die „Achsenpartner“ Mussolini und Hitler die Südtiroler in einem perfiden Optionsabkommen, sich entweder für das Deutsche Reich zu entscheiden und über den Brenner zu gehen oder bei Verbleib in ihrer Heimat schutzlos der gänzlichen Italianità anheim zu fallen. Obschon die meisten für Deutschland optierten, verhinderte der Zweite Weltkrieg die kollektive Umsiedlung. 1946 lehnten die Alliierten die Forderung nach einer Volksabstimmung in Südtirol ab, woraufhin sich in Paris die Außenminister Österreichs und Italiens auf eine Übereinkunft zugunsten der Südtiroler verständigten, die Bestandteil des Friedensvertrags mit Italien wurde.
Das Gruber-DeGasperi-Abkommen vom 5. September 1946 sah die politische Selbstverwaltung vor, und im Kulturellen wurden muttersprachlicher Unterricht sowie die Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache auf allen Feldern des gesellschaftlichen Lebens garantiert. In Südtirol selbst taten italienische Partisanen und Insurgenten alles, um das Gebiet, das nach der Absetzung Mussolinis 1943 als faktisch unter der Suprematie des Obersten Kommissars der „Operationszone Alpenvorland“ und Gauleiter von Vorarlberg-Tirol Franz Hofer stand, quasi der „Riconquista italiana“ den Weg zu bereiten. Der Publizist Helmut Golowitsch hat soeben minutiös dokumentiert, wie diese Insurgenten im Zusammenwirken mit weiterbestehenden Behörden und Carabinieri der Repubblica di Salò, dem verbliebenen Refugium Mussolinis unter militärischer Protektion von Wehrmacht und SS, alles daransetzten, die Südtirol-Frage auf ihre Art und Weise ein für allemal zugunsten des Umfallers und Kriegsgewinnlers Italien zu lösen. Viele der Übergriffe geschahen unter der Verschwiegenheit der neuen politischen Oberschicht Südtirols sowie der Alliierten. (Helmut Golowitsch: „Repression. Wie Südtirol 1945/46 wieder unter das Joch gezwungen wurde“, Neumarkt/Etsch, Effekt! Verlag 2020, ISBN-9788897053682)
Der Trick des Trientiners DeGasperi
Zwar erließ Rom dann 1948 das vorgesehene Autonomie-Statut und deklarierte es – wie zwischen Vertragspartnern und Siegermächten verabredet – zum Bestandteil der italienischen Verfassung. Allerdings wurde die Provinz Bozen-Südtirol mit der Nachbarprovinz Trient in einer Region („Trentino – Alto Adige“) zusammengefasst. Dieser Trick des verschlagenen Trientiners DeGasperi führte die Majorisierung der deutschen und der ladinischen Volksgruppe durch die italienische herbei, die im Trentino absolut dominant war.
Dagegen und gegen die vom „demokratischen Italien“ ungebrochen fortgeführte Ansiedlung weiterer Italiener in ihrer Heimat protestierten die Südtiroler 1957 unter der Parole „Los von Trient“. Mit Anschlägen auf „Volkswohnbauten“ und andere italienische Einrichtungen machte der „Befreiungsausschuss Südtirol“ (BAS) die Welt auf die verweigerte Selbstbestimmung und die uneingelösten vertraglichen Zusicherungen Roms aufmerksam. 1960 trug der damalige österreichische Außenminister Bruno Kreisky den Konflikt vor die Vereinten Nationen, und da Italien trotz zweier UN-Resolutionen nicht einlenkte, erreichten die Anschläge im Sommer 1961 ihren Höhepunkt. Rom verlegte 22.000 Soldaten sowie Carabinieri in den Norden und stellte das Land unter Ausnahmerecht mit all den damit verbundenen rigorosen Gewaltmaßnahmen gegen die Bevölkerung, insbesondere das Foltern von inhaftierten BAS-Aktivisten. Südtirol rückte infolgedessen auch international in den Mittelpunkt des Weltgeschehens, woran sich heute außer der Erlebnisgeneration und Historikern kaum noch jemand erinnert.
„Paket“ und zweites Autonomiestatut
Nach unzähligen zähen Verhandlungsrunden zwischen Wien und Rom im Beisein von Vertretern beider Tirol einigte man sich auf die Entschärfung des Konflikts, indem man 137 Einzelmaßnahmen an einen „Operationskalender“ band – also an eine zeitlichen Vorgabe für die Umsetzung – und in einer sogenannten „Paket-Lösung“ verschnürte. Bevor diese am 20. Januar 1972 als „Zweites Autonomiestatut“ in Kraft treten konnte, musste ihm die Südtiroler Volkspartei (SVP), die seit 1945 maßgebliche politische Kraft im Bozner Landhaus, zustimmen. Auf der SVP-„Landesversammlung“ in der Kurstadt Meran kam 1969 eine knappe Mehrheit dafür zustande.
Es sollte weitere zwanzig Jahre und ungezählter Verhandlungen im Reigen stets wechselnder italienischer Regierungen in Anspruch nehmen, die wesentlichen Bestimmungen über die Selbstverwaltung umzusetzen sowie die annähernde Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache im öffentlichen Leben sowie die Stellenbesetzung gemäß ethnischem Proporz zu verwirklichen. Erst 1992 konnte das „Paket“ für erfüllt und am 11. Juni der Südtirol-Konflikt durch Abgabe der „Streitbeilegungserklärung“ vor den Vereinten Nationen formell für beendet erklärt werden. Zuvor hatte der damalige italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti im römischen Parlament sowie mittels eines Briefes nach Wien die Zusicherung gegeben, dass Änderungen daran nur mit Zustimmung der Südtiroler vorgenommen werden dürften.
Ohne Perspektive
Letzteres ist seitdem vielfach nicht eingehalten oder im Sinne der von Rom in Anspruch genommenen zentralstaatlichen „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ (AKB) stark verwässert worden. Die SVP fand sich immer öfter bereit, von Rom dekretierte Änderungen an Substanz und Charakter des Statuts letztlich in „kompromisslerische“ Reduktionsforme(l)n zu kleiden. Sie nahm diese Änderungen hin, um den Anschein von „Convivenza/Zusammenleben“ aufrecht zu erhalten sowie die von ihr ebenso wie von den jeweils in Rom Regierenden verabsolutierte, angeblich „beste Autonomie der Welt“ nach innen außen als „modellhaft“ anzupreisen. Und nicht zuletzt auch, um möglichst die ihr insbesondere seit den 1980er Jahren zugewachsene politisch-ökonomische Macht zu erhalten, von deren ökonomisch-finanziellen wie sozialen Pfründen das Gros ihrer in Gemeinden, Provinz und Region wirkenden Funktionsträger profitiert.
Von der „Autonomie-Partei“ SVP, deren geduldiger, langwieriger, mitunter bis zur Selbstverleugnung reichendes politisches Wirken für ein erträgliche(re)s Dasein der Südtiroler, zuvorderst für eine prosperierende Wirtschaft und eine geordnete Verwaltung, die den Zuständen in Italien hohnspricht, nicht gering geschätzt werden soll, ist daher insbesondere unter ihrer gegenwärtigen Führung nicht zu erwarten, dass sie je an eine Änderung des Status quo auch nur denkt oder gar einen „Plan B“ in die Schublade legte, um für Eventualitäten gerüstet zu sein. Demgegenüber weisen alle austro-patriotischen Kräfte beidseits des Alpenhauptkamms und von Vorarlberg bis ins Burgenland völlig zurecht darauf hin, dass in sämtlichen Befunden aus mehreren demoskopischen Erhebungen der letzten Jahre – sowohl in Südtirol, als auch in Österreich selbst – klar zutage tritt, dass sich die weit überwiegende Mehrheit der Befragten stets für die Beseitigung bzw. Überwindung des Teilungszustands ausgesprochen hat.
„100 Jahre Unrecht machen keinen Tag Recht“
Es kann daher nicht verwundern, dass sich Tiroler im Zusammenhang mit dem deutschen Staatsfeiertag (3. Oktober) zur Erinnerung an die Wiedervereinigung 1990 die Frage stellen, was „das Bundesland Tirol, die Autonome Provinz Bozen-Südtirol und die Republik Österreich zur Vereinigung Süd-, Ost- und Nordtirols unternehmen“. Dabei wissen die derart Fragenden von vornherein, was sie, wenn überhaupt, aus Wien, Innsbruck und Bozen gegebenenfalls zur Antwort erhalten, nämlich dass „die einst trennenden Grenzen seit dem EU-Beitritt Österreichs nicht mehr wahrnehmbar, ja sogar überwunden“ seien und sich die „Landeseinheit durch EUropäisierung verwirklichen“ lasse, was institutionell bereits in der „Euregio Tirol Südtirol Trentino“ bzw. dem „Europäischen Verbund für territoriale Zusammenarbeit“ (EVTZ) seinen Ausdruck finde. Kollektiverfahrungen im Zusammenhang mit Grenzschließungen wegen der Abwehr des Flüchtlingszustroms respektive mit Grenzkontrollen aufgrund der Corona-Pandemie strafen derartige politische Beschönigungen ebenso Lügen wie der Blick auf die unverkennbare Renationalisierung der Staatengemeinschaft EU, deren Monstrosität, Entscheidungsschwäche und Kraftlosigkeit als internationaler Akteur.
Markierung der Mitte Tirols durch den Schützenbezirk Brixen
Vereinigungen wie Schützen (SSB), Heimatbund (SHB) und deutschtiroler Landtagsopposition halten indes daran fest, immer wieder – und in diesem Gedenk-Herbst umso mehr – das völkerrechtswidrige Zerreißen Tirols und die stete Verweigerung der Selbstbestimmung ins Gedächtnis zu rufen. Beispielhaft und aller Ehren wert sind in diesem Zusammenhang das „Kenntlichmachen der Mitte Tirols“ durch einen geweihten Markierungsstein, den der Schützenbezirk Brixen in unmittelbarer Nähe des Schutzhauses „Latzfonser Kreuz“ im Gebirge auf Gemeindegebiet von Klausen errichtete, sowie die von Trient bis Wien organisierte Plakataktion des SHB unter der Losung „100 Jahre Unrecht machen keinen Tag Recht“.
Im „Massengrab mit nicht abgeholter Asche“ verschwanden Stalins letzte Opfer aus Österreich und Deutschland
Unlängst beging der weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannte und an zahlreichen internationalen Opernbühnen wirkende Tenor Adolf Dallapozza seinen 80. Geburtstag. Kammersänger Dallapozza, Ehrenmitglied der Wiener Volksoper, entstammt einer Südtiroler Familie. Vater Virginius war kunstgewerblicher Maler aus Bozen, die musisch begabte Mutter Gisela, eine gebürtige Bartolotti, aus Branzoll im Südtiroler Unterland. Aus der am 21. Juni 1921 geschlossenen Ehe gingen neun Kinder hervor. Adolf Dallapozza, der jüngste Sohn, war, wie seine Geschwister, noch in Südtirol geboren worden. Er kam, noch in seinem Geburtsjahr 1940, mit der gesamten Familie infolge des zwischen Hitler und Mussolini geschlossenen Optionsabkommens, zufolge dessen sich die Südtiroler entscheiden mussten, entweder ihre Heimat zu verlassen und ins Reich umzusiedeln, oder in Italien zu bleiben und damit durch erzwungene Assimilation letztlich ihre national-kulturelle Identität an die Italianità zu verlieren, schließlich nach Wien, wo seine internationale Karriere ihren Anfang nahm, und wo er als gefeiertes Ehrenmitglied der Volksoper seinen Lebensabend verbringt.
Anders sein um 15 Jahre älterer Bruder: Emil Dallapozza, am 19. September 1925 noch in Branzoll geboren, ereilte elf Jahre nach der Umsiedlung ein besonders tragisches Schicksal, über dessen nähere Umstände die Eltern – der Vater verstarb 1964, die Mutter 1980 – niemals etwas, die Geschwister, soweit sie noch lebten, erst nahezu 60 Jahre später die Wahrheit erfuhren. Zwar hatte die Familie neun Jahre nach seinem plötzlichen Verschwinden über Nachforschungen des Roten Kreuzes die Mitteilung erhalten, dass er in der Sowjetunion verstorben sei. Nähere Auskünfte waren aber aufgrund des apodiktischen Hinweises, weitere Nachforschungen seien zwecklos, unterblieben.
Emil Dallapozza · Foto: BIK Graz
Mit Bitterkeit in der Stimme hatte sich Anna-Maria Melichar, eine Schwester, seinerzeit gegenüber Historikern des in Graz ansässigen „Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung“ (BIK), die anhand von Akten aus russischen Archiven den verhängnisvollen Weg nachzeichneten, der für ihren Bruder in einem Moskauer Massengrab endete, und damit den Angehörigen die Augen über das Schicksal des Bruders öffneten, jenes Tages erinnert, da sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte: „Er ist in der Früh weggegangen und nie mehr wiedergekommen. Meine Mutter hat immer wieder verzweifelt nachgefragt, aber erst 1960 erfahren, dass er gestorben ist – mehr nicht.“ Es war der 11. Juni 1951, als Emil Dallapozza spurlos verschwand. Er war in die Fänge von Häschern der sowjetischen Spionageabwehr-Sondereinheit SmerSch (Смерш) – das Akronym steht übersetzt für „Tod den Spionen“ – und damit in die tödliche Mühle von Stalins erbarmungsloser Justiz geraten. Grund seiner Festnahme: „Spionage für den französischen Geheimdienst“.
Aus den Akten geht hervor, dass Emil Dallapozza in St. Pölten die Kennzeichen zweier sowjetischer Kraftfahrzeuge notiert sowie Notizen über eine dort stationierte Militäreinheit gemacht hatte und auf „frischer Tat“ beim „Sammeln von Informationen“ ertappt und festgenommen worden war. Laut Protokoll des Militärtribunals bekannte er sich im Verhör in Baden bei Wien, wohin man ihn schaffte, zu seiner Schuld. Am 25. August 1951 verurteilte es ihn zur Höchststrafe, zum Tode durch Erschießen; Grundlage war der berüchtigte Paragraph 58 Absatz 6 des Strafgesetzbuchs der UdSSR. Man verbrachte ihn ins Butyrka-Gefängnis nach Moskau, eine wegen vorherrschender Brutalität und entwürdigender Haftbedingungen berüchtigte Anstalt. Dort schrieb er ein Gnadengesuch, in welchem er darlegte, dass er nicht aus politischen Motiven gehandelt habe: „Der ergebenst Gefertigte Emil Dallapozza […] macht von der sowjetischen Rechtswohltat Gebrauch und bittet um Umwandlung der Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe. Zur Bekräftigung seiner Bitte weist er noch auf seine Unbescholtenheit und seine Parteilosigkeit hin, wodurch erwiesen ist, dass seine Straftat keinem politischen Hassgefühl entsprungen ist.“ Am 29. September 1951 lehnte das Oberste Gericht der UdSSR, am 23. Oktober das Präsidium des Obersten Sowjets sein Gnadengesuch ab. Emil Dallapozza wurde am 10. November 1951 erschossen, sein Leichnam eingeäschert und die Asche auf den Donskoje-Friedhof verbracht.
Grab Nr. 3 mit nicht abgeholter Asche 1945-1953 Foto: BIK
Wie dem Österreicher aus Südtirol, den die russische Hauptmilitärstaatsanwaltschaft (GVP) am 15.Mai 1998, zehn Jahre, bevor seine Angehörigen durch die Grazer Forscher davon Kenntnis erhielten, förmlich rehabilitierte, erging es auch dem 1923 geborenen Deutschen Herbert Killian. Der 1946 aus amerikanischer Gefangenschaft entlassene vormalige Wehrmachts-Leutnant wurde am 12. April 1950 in Radebeul verhaftet, am 28. September wegen Spionage zum Tode verurteilt und am 12. Februar 1951 in Moskau erschossen. In seinem Gnadengesuch beteuerte er, „nur unter Zwang“ gehandelt zu haben. Dreimal sei er für seinen Auftraggeber in die SBZ (Sowjetische Besatzungszone des geteilten Deutschland, später DDR) gereist. Wegen „Spionage für den amerikanischen Nachrichtendienst“ – dem Sammeln von Datenüber sowjetische Einheiten und Flugplätze in Berlin, Chemnitz, Cottbus, Bautzen und Berlin – verurteilte ihn ein Militärtribunal in Berlin zum „Tode durch Erschießen“. Zusammen mit Killian wurden zwei weitere Deutsche, Erich Reinhold und Felix Müller, zum Tode verurteilt; gegen 21 weitere Deutsche wurden hingegen „nur“ 25 Jahre Arbeitslager im sibirischen GULag als Strafmaß verhängt. 1994 erklärte die GVP Herbert Killian für rehabilitiert.
Das tatsächliche Schicksal all derer, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg unter solchen oder ähnlichen Umständen ums Leben kamen, war bis vor wenigen Jahren völlig unbekannt. Zwar hatten Angehörige der Vermissten während der „Tauwetterperiode“ und „Entstalinisierung“ unter Nikita Chruschtschow 1956/57 offizielle Todesmitteilungen erhalten, doch die Todesursachen waren allesamt fingiert: Lungen-Tbc, Nierenversagen, Gehirnblutung. Der entscheidende Hinweis auf ihr wahres Ende kam Jahrzehnte später von Arsenij Roginskij, Chef der einst von Andrej Sacharow gegründeten Bürgerrechtsorganisation „Memorial“. Laut „Memorial“ wurden zwischen 1945 und Stalins Todesjahr 1953 insgesamt siebentausend Menschen in der „Butyrka“ erschossen, unter ihnen mehr als tausend deutsche und 132 österreichische „Spione“. Roginskij nahm Kontakt zu Stefan Karner auf, dem damaligen Leiter des BIK in Graz. Dank „Entgegenkommens des Moskauer Staatsarchivs aufgrund jahrelanger vertrauensvoller Zusammenarbeit“ sei es dann, so Karner, „möglich geworden, die Schicksale dieser besonderen Gruppe unter den letzten Opfern Stalins zu rekonstruieren. Wir haben die Gnadengesuche der zum Tode Verurteilten und die Antworten – sie wurden alle mit einer unvorstellbaren Brutalität abgelehnt.“
Die 24 Jahre alten Buchhalterin Hermine Rotter aus Wien schrieb in ihrem Gnadengesuch: „Ich flehe zu Ihnen, ohne Eltern, ohne Heimat, da ich sonst niemand mehr habe, mein nacktes Leben zu retten und mich von dem grässlichen Tode freizusprechen. Ich schwöre dem russischen Staat meinen heiligen Eid, sollte das Hohe Gericht mir diese Gnade des Lebens erteilen, meine ganze Kraft, Arbeit, Fleiß und guten Willen zu geben und Ihnen in der Sowjetunion zu beweisen, dass ein junges Wiener Mädchen einen großen Fehler begangen hatte, aber als Wiedergutmachung Ihnen ihr Leben durch Arbeit und ein gutes Herz schenkt. Ich zünde für jeden Soldaten Ihres Landes, welcher im Kriege starb, abends in meinem Herzen ein Lichtlein an und denke dabei als Wienerin, alles gutzumachen, was ich an Ihnen verbrochen habe.“ Es half nichts: Am 9. Oktober 1951 wurde Hermine Rotter im Keller der „Butyrka“ erschossen – wegen „antisowjetischer Spionage“. In derselben Nacht wurde ihr noch nicht erkalteter Leichnam im Krematorium auf dem Friedhof des ehemaligen Klosters Donskoje verbrannt. Ihre Asche schüttete man ins wenige Schritte entfernte Grab Nr. 3, das „Massengrab mit nicht abgeholter Asche aus den Jahren von 1945 bis 1989“, als das es heute offiziell bekannt ist. Ihre Angehörigen erhielten nach dem Abschluss des Staatsvertrages und dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen aus Österreich 1955 eine Todesnachricht mit fingierter „natürlicher“ Todesursache.
Von 2201 Zivilisten, die sowjetische Organe bis 1955 in Österreich verhafteten, erhielten mehr als tausend hohe Haft- und Lagerstrafen.132 Personen verurteilte das Militärtribunal zum Tode: 39 in den Jahren 1945 bis 1947; 93 zwischen 1950 und Stalins Tod am 5. Februar 1953.1947 hatte Stalin die Todesstrafe vorübergehend ausgesetzt; drei Jahre später führte er sie wieder ein. Niemand in Österreich wusste, dass im Kurort Baden bei Wien derartige „Prozesse“ stattfanden, bei denen die Beschuldigten keine Chance hatten, sich zu verteidigen. Die Anklage war stets dieselbe: Spionage; ebenso das Urteil: Tod durch Erschießen.
In den meisten Fällen waren es aber wohl Lappalien, derer sich die Verhafteten „schuldig“ gemacht hatten, getrieben oft aus schierer materieller Not. So im Falle des Stefan Buger. Buger war Fahrdienstleiter bei der österreichischen Eisenbahn. Im Verhör vor dem Militärtribunal legte er seine „finanzielle und materielle Not“ dar, die ein Angehöriger des französischen Geheimdienstes namens Fuczik „erbärmlich und schändlich ausgenutzt“ habe: „Ich hatte einen Monatslohn von 690 Schilling, auf Lebensmittelkarten nichts bekommen, alles nur am schwarzen Markt. 1 kg Schmalz 400 Schilling, Zucker 220 Schilling, Mehl 45 Schilling, ein Ei 230 Schilling, Fleisch 300–350 Schilling. Meine Familie unterernährt, Kinder hatten Hunger und nicht einmal das Notwendigste an Brot und Fett zuhause“, gab Buger zu Protokoll. Als Gegenleistung für Informationen über Fracht und Häufigkeit des Verkehrs sowjetischer Güterzüge soll Buger „4000–4500 Schilling an Geld oder Produkten wie Schmalz, Mehl, Zucker“ erhalten haben. 1948, nach Fucziks „Verschwinden“, brach er jeglichen Kontakt zum Geheimdienst ab. Was Buger nicht wusste: Fuczik war wegen Spionage zu 25 Jahren GULag verurteilt worden und hatte seinen Namen preisgegeben. Buger wurde am 11. Juli 1952 in Moskau hingerichtet.
Stefan Buger . Foto: BIK Graz
Daheim rätselte seine ahnungslose Familie jahrelang über die Gründe für sein plötzliches Verschwinden: „Wir haben halt immer wieder spekuliert, ob er als Fahrdienstleiter vielleicht einen Zug mit Juden ins KZ gebracht hat“, sagte sein Sohn.
Ein anderer Fall, den die Grazer Wissenschaftler klärend rekonstruierten, ist der des Leo Thalhammer. „Der Fabrikarbeiter Leo Thalhammer wurde aufgefordert, auf die Kommandantur zu kommen und wurde seither nicht mehr gesehen“, hieß es in einer Meldung der „Arbeiterzeitung“ Ende September 1951. Seine Frau Anna ahnte sogleich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste: „Den Leo ham’s sicha daschossn.“ Sein Schwager Ernst Feichtinger, laut KGB-Akten ein Agent des amerikanischen Geheimdienstes CIC, hatte Thalhammer als Informanten angeworben. Er sollte berichten, was bei den Messerschmitt-Werken in Wiener Neustadt hergestellt wurde. In seinem Gnadengesuch vom 6. Dezember 1951 bot Thalhammer „ … mein „ganzes Können für den Aufbau von Russland an, um meine Tat gutzumachen“. Vergeblich: Am 1.März 1952 wurde er zusammen mit seinem Schwager Feichtinger in Moskau exekutiert. 1956 erhielt die Familie die Nachricht, er sei infolge „Zerreißens der Aorta“ verstorben – eine vordergründig zwar korrekte, aber doch zutiefst zynische Darstellung.
Gnadengesuch Thalhammer · Foto: BIK Graz
Isabella Maria Lederer wiederum wurde die leibliche Verwandtschaft mit einem vormaligen SS-Offizier zum Verhängnis, der für den amerikanischen Geheimdienst arbeitete. Die Grazerin wurde von ihrem Bruder angeworben. Ob sie bloß an Geld kommen wollte, um ihre drei Kinder durchzubringen oder tatsächlich politische Motive hatte, bleibt ungeklärt. Sie fuhr oft nach Wien, um Flugblätter zu verteilen, auf denen namens eines „Nationalen Arbeitskreises“, einer weißrussischen Organisation, dazu aufgefordert wurde, die Fronten zu wechseln. Stets mit dabei waren ihr 17 Jahre alter Sohn Horst und ihre vier Jahre alte Tochter Roswitha. Über ihre Festnahme berichtete im Mai 1952 sogar die „Austria Presse Agentur“. Am 18. Juli 1952 sah Horst Lederer seine Mutter zum letzten Mal im „Gerichtssaal“ des sowjetischen Militärs in Baden. Als die Übersetzung des Urteils verlesen wurde, konnten beide das Gehörte kaum fassen: wegen „antisowjetischer Agitation“ Tod durch Erschießen für die 42 Jahre alte Soldatenwitwe und Mutter dreier Halbwaisen; 25 Jahre „Arbeitsbesserungslager“ für den minderjährigen Sohn. „Sie war wie versteinert“, erinnerte sich Lederer, „ich streichelte ihr die Hand und sagte ‚Es tut mir so leid‘.“
Lederer Familienbild 1949 · Foto: BIK Graz
Drei Tage nach dem Urteilsspruch schrieb auch Isabella Lederer ein Gnadengesuch: „Ich bitte aus tiefstem Herzen das Präsidium die verzweifelte Bitte einer Mutter zu erfüllen, das furchtbare Urteil zu ändern und mir die Möglichkeit zu geben, einmal wieder mein Leben bei meinen Kindern zu verbringen.“ Am 11. September wurde die Bitte um Gnade abgelehnt, vier Wochen später vollstreckte Wassilij Michailowitsch Blochin im Keller der Moskauer „Butyrka“ das Urteil. Horst Lederer, sein Leben lang erfüllt vom Schmerz über das Schicksal seiner Mutter, hatte Glück: die Sowjetmacht verfrachtete ihn „nur“ nach Alexandrowsk in Sibirien, im Juni 1955 schickte sie ihn nach Hause.
Stalins Henker Blochin · Foto: BIK Graz
Wasilij Michailowitsch Blochin war von 1924 bis 1953 für die Exekution von „Staatsfeinden“ verantwortlich. Der Gebieter über das „Untersuchungsgefängnis Nr. 2“ trat dabei stets auf, als wolle er die Delinquenten eher köpfen denn ihnen den Genickschuss zu verpassen; er hatte die Kleidung eines Schlächters angelegt: braune Schirmmütze, lange Lederschürze und Handschuhe, die bis über die Ellbogen reichten. Seine sorgfältig gepflegte Ruhestätte befindet sich keinen Steinwurf entfernt vom Massengrab seiner Opfer. Dank der Forschungen der Grazer Historiker bekamen sie wie der gebürtige Südtiroler Emil Dallapozza und seinesgleichen zumindest ihre Namen zurück und die Angehörigen sowie die Nachgeborenen Einsichten über ihr gnadenlos-trauriges und menschenverachtendes Schicksal. Tiefschürfende, dokumentierte Befunde und Erkenntnisse darüber bietet das von Stefan Karner und Barbara Stelzl-Marx herausgegebene Buch „Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950–1953“.
Grabmal Blochins und seiner Frau Natalija Aleksandrowna Blochina Foto: BIK
In Südtirol leuchten Feuerschriften auf und die Stimmung schlägt um
Im Lande an Eisack und Etsch gärt es. Feuerschriften leuchten auf. „Jetzt reicht‘s“ verkünden brennende Fackel-Schriftzüge zwischen Pustertal, Burggrafenamt und Vinschgau. „Freistaat“ heißt ein Verlangen auf Spruchbändern. „Kurz, hol uns heim“ fordern Aufschriften auf an Brücken befestigten Tüchern als Wunsch an den österreichischen Bundeskanzler. Und in Weinbergen, an Felswänden, Heustadeln und Gartenzäunen prangt auf Spruchtafeln, was des Nachts Flammenschriften an Bergrücken bekunden: „Los von Rom“.
Die Folgen der Corona-Krise zeitigen im südlichen Teil Tirols, von Italien 1918 annektiert und ihm im Vertrag von St. Germain 1919 als Belohnung für seinen Seitenwechsel 1915 zugesprochen, einen markanten Stimmungsumschwung in der Bevölkerung. Der öffentlich vernehmliche Unmut gegen das Dasein im fremdnationalen Staat, und der Rückgriff auf das „Los von Rom“, einer Losung, welche die 1950er Jahren maßgeblich beherrschte, in den 1960er und 1970er Jahren aber infolge der Autonomie- und „Paket“-Politik, in welcher das „Los von Trient“ dominierte, eher schwand, und allenfalls noch von austro-patriotischen, in ganz geringem Maße auch von deutschnationalen Kräften als Ziel hochgehalten wurde, hat in den „Corona-Wochen“ durch Maßnahmen, wie sie dem typischen römischen Zentralismus immer wieder eigen sind, einen enormen Auftrieb erhalten.
Unübersehbar war und ist, dass selbst die Südtiroler Volkspartei (SVP), seit 1945 dominante und mehr oder weniger unangefochtene politische Kraft in der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol, von diesem demoskopisch greifbaren und allerorten zu vernehmenden Umschwung erfasst zu sein scheint. Eine SVP, deren (seit Abgang der „Alten Garde“) janusköpfige Führung – hie Parteiobmann Philipp Achammer, da Landeshauptmann Arno Kompatscher – seit Amtsantritt 2014 stets mehr Italophilie zeigte denn von historisch gebotener Österreich-Empathie berührt ist. Die Auswirkungen der Corona-Krise, insbesondere das notorisch zu nennende zentralstaatliche Gebaren Roms, das der – von der SVP bisweilen verabsolutierten – Autonomie Hohn spricht und die Südtiroler „Selbstverwaltung“ ad absurdum führt(e) – setzten quasi über Nacht eine Kurswende in Gang. So beschloss die SVP-Parteiführung, als sie gewahrte, dass sich der Stimmungsumschwung in Wirtschaft und Gesellschaft Südtirols letztlich auch zu ihren machtpolitischen Ungunsten auswirken würde, eine Kehrtwende. Sie bekundete, die von ihr geführte Landesregierung werde nicht einfach mehr die als abschnürend empfundenen Dekrete von Ministerpräsident Conte in vom Landeshauptmann quasi übersetzte Anordnungen kleiden, sondern durch ein eigenes – in autonomer Zuständigkeit aufgrund primärer Zuständigkeit vom Landtag zu verabschiedendes – Landesgesetz ersetzen, welches den Bedürfnissen der Bevölkerung zwischen Brenner und Salurner Klause Rechnung trage.
„Für uns ist es nicht akzeptabel, das unsere Autonomie weiter eingeschränkt wird“, hatte Kompatscher nach einer Videokonferenz des Regionenministers Francesco Boccia mit den Regierungschefs der Regionen und autonomen Provinzen sowie mit Zivilschutz-Chef Angelo Borrelli und dem außerordentlichen Covid-19-Notstands-Kommissar Domenico Arcuri dargelegt. Boccia hatte bekräftigt, dass Sonderwege für Gebietskörperschaften erst vom 18. Mai an zulässig seien. Daher, so Kompatscher, werde Südtirol nicht nur den „schwierigen gesetzgeberischen Weg gehen, um Schritt für Schritt das wirtschaftliche Leben wieder in Gang zu bringen“, sondern gemäß dem einmütigen Beschluss des SVP-Führungsgremiums auch die römischen Parlamentarier der Partei veranlassen, die (ohnehin labile) Regierung Contes – nach Hinauswurf Salvinis und der Lega von dem im linken Parteienspektrum angesiedelten Partito Democratico (PD) und der Movimento 5 Stelle (M5S; „Bewegung 5 Sterne“) sowie einer PD-Abspaltung unter dem früheren Ministerpräsidenten Renzi mehr schlecht als recht getragen – nicht länger zu unterstützen.
Der gesetzgeberische Akt Südtirols wird letztlich zwangsläufig zu einem Konflikt führen, der nicht allein bis zum römischen Verfassungsgerichtshof reichen würde, wenn Rom auf seiner trotz aller schönfärberischen Lobhudeleien, die zwischen Rom und Bozen, aber auch zwischen Wien und Rom ob der „weltbesten Autonomie“ und der „friedlichen gutnachbarschaftlichen Lösung des seit Ende der Teilung Tirols 1919/20 bestehenden Südtirolkonflikts“ durch die Streitbeilegungserklärung gegenüber den Vereinten Nationen 1992 fortbestehende „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ (AKB) seiner Zentralgewalt besteht und den Landtagsbeschluss für null und nichtig erklärt. Was nach aller historisch-politischen Erfahrung geschehen dürfte.
Doch unabhängig davon, ob Rom dann eine Art Zwangsverwaltung über Südtirol verhängt – denn selbst bis zu einer „Eilentscheidung“ des römischen Verfassungsgerichtshofs, die erfahrungsgemäß kaum zugunsten Südtirols ausfallen dürfte, würde wohl eine erhebliche Zeitspanne verstreichen – oder nicht, könnten alle damit verbundenen Akte wohl kaum ohne erhebliche Spannungen realisiert werden. Eigentlich sieht ja das in vielen damaligen Verhandlungen vereinbarte und 1969 gutgeheißene „Südtirol-Paket“ und das darauf fußende Zweite Autonomiestatut von 1972 rechtsverbindlich vor, dass alle von Rom hinsichtlich Südtirols zu treffenden Maßnahmen stets nur im Einvernehmen mit den dortigen Gremien in Kraft gesetzt werden können. Notfalls steht es Bozen zu, Wien sozusagen als „Schutzmacht“ anzurufen; lediglich der Gang vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) ist im Zuge der damaliger Verhandlungen nicht als Vertragsbestandteil fixiert worden, was sich, wenngleich in Wien und Bozen von manchen seinerzeit mahnend verlangt, als kaum mehr gutzumachendes Hemmnis für die Südtiroler Sache insgesamt erweist.
Die SVP – in der Anfang 2019 gebildeten Landesregierung auf die Südtiroler Provinzorganisation der starken Lega angewiesen – hat dabei nicht allein ihren Koalitionspartner an der Seite; die Lega ist seit dem „Hinauswurf“ ihres demoskopisch erfolgsverwöhnten römischen Vormanns Salvini mit der römischen Regierung ohnedies auf striktem Konfliktkurs. Auch auf die deutschtiroler Oppositionskräfte im Landtag, Freiheitliche Partei (FPS) und Süd-Tiroler Freiheit (STF), kann sie in dieser Sache zählen, wenngleich beiden die im Landesgesetz fixierten Erleichterungen nicht in allen Punkten zusagen oder sie für zu wenig weitreichend erachten; Hauptsache man setzt Zeichen für ein gemeinsames Aufbäumen gegen Rom und dessen scheibchenweiser Aushöhlung der autonomen Zuständigkeiten Südtirols. Diese sind längst weit von der seit 1992 von der SVP erstrebten „dynamischen Autonomie“ entfernt , ganz zu schweigen von der von ihr einst als hehres Ziel proklamierten „Vollautonomie“, von der in letzter Zeit kaum noch die Rede gewesen ist.
Dass die SVP sozusagen „in letzter Minute“ die (nicht allein in Feuerschriften aufflammenden und auf Transparenten ersichtlichen) „Zeichen der Zeit“ erkannte – und allem Anschein nach damit zudem einen bisweilen an die Öffentlichkeit drängenden Rivalitätskonflikt Achammer – Kompatscher einzuhegen trachtete – ist unverkennbar auf auch vernehmliches innerparteiliches Rumoren zurückzuführen. Die (laut)stärkste Stimme in dieser Situation war/ist die der Wirtschaft, die in der von Interessenbünden geprägten SVP – Wirtschaft, Bauern, Arbeitnehmern, als den gewichtigsten – die Melodie vorgab, verstärkt durch die Tageszeitung „Dolomiten“, die sich allzugerne als SVP-„Wegweiser“ geriert, wenn nicht bisweilen gar als deren Quasi-Parteiorgan fungiert. Markant auch der Mahnruf Christoph Mastens. Der langjährige SVP-Wirtschaftsfunktionär, seit 40 Jahren Parteimitglied, bedient sich seines Internet-Organs VOX-News Südtirol, um der jetzigen Parteiführung und insbesondere dem Landeshauptmann sowie den SVP-Landesräten (Ministern) in griffigen Anklagen nicht nur fehlendes Führungsmanagement , Misswirtschaft, Versagen vorzuhalten, sondern auch „gewissenlosen Verrat an der Südtirol- Autonomie und am Südtiroler Volk zu unterstellen – gipfelnd in zündenden VOX-Losungen wie „Jetzt Vollautonomie oder Freistaat“.
Dass solche Stimmen nicht nur in austro-patriotischen Verbänden wie dem Südtiroler Heimatbund (SHB), der Vereinigung ehemaliger Freiheitskämpfer der 1960er bis 1980er Jahre, und des Südtiroler Schützenbundes (SSB) Resonanz finden und verstarken – SSB- Kompanien waren maßgeblich an der Organisation der weithin ersichtlichen und Rom, wo natürlich reflexartig von Separatismus-Bestrebungen die Rede war, erzürnenden Parolen und Leuchtfeuern beteiligt – sondern in „Los von Rom“-Stimmung münden, liegt auf der Hand. Ebenso lässt gleichlautende Flammenschriften bzw. der aus weithin im Lande lodernden Fackeln konfigurierte Tiroler Adler „Gänsehaut“ bei vielen Leuten entstehen – just eingedenk signifikanter Parallelität zum Tiroler Freiheitskampf des Andreas Hofer wider französische und bayerische Fremdherrschaft bis hin zu den 1960er und 1970er Jahren, da sich in Gestalt der Freiheitskämpfer des BAS (Befreiungsausschuss Südtirol) der „Tiroler Adler gegen den italienischen Staat“ erhob.
Es sind daher nicht mehr nur, wie seither eher die Oppositionsanhänger, wenige Südtiroler, die vom römischen Zentralismus, ja von der nicht selten unter dem Gebot des „friedlichen Miteinanders“ erzwungenen Unterwerfung unter die Lupa Romana genug haben. Mehr und mehr Bewohner des Landes zwischen Dolomiten und Reschen halten die bisher praktizierte Form der Südtirol-Autonomie für gescheitert, sehen im politkommunikativen Gesäusele von der die Teilung Tirols überwindenden „Zukunft durch EUropäisierung“, praktiziert in einem mehr oder weniger papierenen Gebilde namens „Europaregion Tirol“, nurmehr Augenauswischerei. Der latente Krisenzustand der EU, wie er besonders während der „Coronitis“ dadurch augenfällig wurde, dass der Rückfall in nationalstaatliches Gebaren als Überlebensnotwendigkeit erachtet und vor aller Augen sichtbar wurde, verstärkte dies Empfinden. Der Gedanke, sich nicht nur „stärker von Rom zu lösen“, sondern sich nach nunmehr 100 Jahren der Zwangseinverleibung, zweimal verweigertem Selbstbestimmungsrecht und idenitätszerstörendem Assimilationsdruck tatsächlich in aller Form und Konsequenz von Italien zu verabschieden, für das namhafte Gesellschaftswissenschaftler ohnedies prognostizieren, seine Auflösung sei kaum mehr aufzuhalten (und für die EU eine „Zeitbombe“; https://zeitung.faz.net/faz/geisteswissenschaften/2020-05-06/die-zeitbombe-ist-der-zerfall-italiens/456075.html ) bricht sich Bahn. Bei Protestfeuern, lodernden Tiroler-Adler-Silhouetten und Spruchbändern mit dem schneidenden Verlangen „Kurz, hol uns heim“ wird es wohl nicht bleiben.
Helmut Golowitsch legt Österreichs bisweilen heuchlerisch betriebene Südtirolpolitik offen
Ob unmittelbar nach dem Zweiten
Weltkrieg tatsächlich die Chance für die in eindrücklichen Willensbekundungen
der Bevölkerung sowie in politischen und
kirchlichen Petitionen zum Ausdruck gebrachte Forderung nach Wiedervereinigung
des 1918/19 schandfriedensvertraglich geteilten Tirols bestand, ist unter
Historikern umstritten. Unumstritten ist, dass sich das Gruber-De
Gasperi-Abkommen vom 5. September 1946,
Grundlage für die (weit später erst errungene) Autonomie der „Provincia
autonoma di Bolzano“, dem die
regierenden Parteien sowie der zeitgeistfromme Teil der Opposition in Wien,
Innsbruck und Bozen heute den Rang einer „Magna Charta für Südtirol“
zubilligen, laut Diktum des früheren Bundeskanzklers Bruno Kreisky (SPÖ) für
Österreichs Politik mitunter als „furchtbare Hypothek“ erwies.
Gruber
und De Gasperi
Denn allem Anschein nach fügte sich
der österreichische Außenminister Karl Gruber seinerzeit in Paris ebenso seinem
italienischen Gegenüber Alcide De Gasperi
wie den drängenden Siegermächten, um überhaupt etwas mit nach Hause bringen zu können. Es waren
jedoch nicht allein die aus der
(geo)politischen Lage herrührenden Umstände und die Unzulänglichkeiten des
damals zur Friedenskonferenz entsandten
österreichischen Personals sowie das mitunter selbstherrliche Gebaren Grubers
respektive der Druck, den die (west)alliierten Siegermächte auf die Beteiligten ausübten und schließlich
ein anderes als das von den (Süd-)Tirolern erhoffte Ergebnis zeitigten. Eine
soeben abschließend im Grazer Stocker-Verlag erschienene, aus drei voluminösen
Bänden bestehende Dokumentation des
Linzer Zeithistorikers und Publizisten
Helmut Golowitsch zeigt, dass vor und hinter hinter den Kulissen Akteure am Geschehen beteiligt waren.
Fabrikant Rudolf Moser Foto Archiv Golowitsch
Manche, wie insbesondere Rudolf Moser, Leiter der in Sachsenburg (Kärnten) situierten „A. Moser & Sohn, Holzstoff- und Pappenfabrik“, übten demnach einen bisher weithin unbekannten und im Blick auf das von der weit überwiegenden Bevölkerungsmehrheit in beiden Tirol sowie in ganz Österreich erhoffte Ende der Teilung des Landes fatalen Einfluss aus. Mosers lautloses Mitwirken inkognito erstreckte sich nahezu auf den gesamten für den Südtirol-Konflikt zwischen Österreich und Italien bedeutsamen Geschehensablauf vom Kriegsende bis zur sogenannten „Paket“-Lösung Ende der 1960er Jahre, bisweilen lenkte er ihn in bestimmte Bahnen.
Ein Emissär
Der 1901 in Wien geborene und
in der christlich-sozialen Bewegung politisch sozialisierte Moser gehörte als
Industrieller der vornehmlich auf die regierende Österreichische Volkspartei
(ÖVP) stark einwirkenden Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft an. Mit dem
ersten Bundeskanzler Leopold Figl, den er als seinen „engsten Jugendfreund“
bezeichnete, verband ihn, wie er vermerkte, „in
allen Belangen …. stets gegenseitige und vollständige Übereinstimmung und
Treue“.In Italien, wohin seine
Firma gute Geschäftskontakte unterhielt,
hielt sich Moser häufig für länger auf und kam mit
namhaften Persönlichkeiten des Staates ebenso
wie mit katholischen Kreisen und dem Klerus in engen Kontakt. Moser, den auch
Papst Pius XII. mehrmals in Rom
persönlich empfing, wirkte zudem als Vertrauensmann des Vatikans. Insofern
nimmt es nicht wunder, dass sich der die italienische Sprache mündlich wie
schriftlich nahezu perfekt Beherrschende und absolut diskret Agierende nach
1945 geradezu ideal für die Aufnahme,
Pflege und Aufrechterhaltung einer trotz Südtirol-Unbill dennoch äußerst
belastbaren Verbindung zwischen ÖVP und Democrazia Cristiana (DC) eignete, die
sich weltanschaulich ohnedies nahestanden. Dazu passte, dass er sich der Rolle des
(partei)politischen Postillons und verdeckt
arbeitenden Unterhändlers mit geradezu missionarischem Eifer hingab.
Die verkaufte
„Herzensangelegenheit“
Das erste
für das Nachkriegsschicksal der Südtiroler bedeutende und in seiner Wirkung
fatale Wirken Mosers ergab sich im Frühjahr 1946. Während nämlich die
österreichische Bundesregierung offiziell – besonders Kanzler Figl, der in
seiner Regierungserklärung am 21. Dezember 1945 vor dem Nationalrat gesagt
hatte: „Eines aber ist für uns kein
Politikum, sondern eine Herzenssache, das ist Südtirol. Die Rückkehr Südtirols
nach Österreich ist ein Gebet jedes Österreichers“ – die
Selbstbestimmungslösung mittels Volksabstimmung verlangte, die
Außenminister Gruber gegenüber den Siegermächten und dem Vertreter Italiens in
Paris bis dahin einigermaßen aufrecht erhalten hatte, wurde Rom auf der Ebene
parteipolitischer Beziehungen vertraulich darüber in Kenntnis gesetzt, dass
sich Wien gegebenenfalls auch mit einer Autonomielösung anstelle eines
Plebiszits einverstanden erklären könne.
Das Signal dazu gab Figl via Moser, der über
Vermittlung eines Priesters aus Welschtirol
(Trentino) den gebürtigen Trientiner De Gasperi am 3. April 1946 im Palazzo del Viminale, dem Amtssitz des italienischen
Ministerpräsidenten, zu einer
ausgiebigen Unterredung traf.
Dass es dem
Kanzler primär um gutnachbarschaftliche
politische (und wirtschaftliche) Beziehungen Wiens zu Rom sowie vielleicht mehr
noch um freundschaftliche Verbindungen zwischen seiner ÖVP mit De Gasperis
DC zu tun war und dass er damit der
alldem entgegenstehenden Sache Südtirols – wider alle öffentlichen Bekundungen
und Verlautbarungen – schadete, spricht Bände.
Widersprüchliches Gebaren
Dieses
widersprüchliche politische Gebaren sollte sich, wie Golowitsch in Band 1
seiner Dokumentation – Titel „Südtirol –
Opfer für das westliche Bündnis. Wie sich die österreichische Politik ein
unliebsames Problem vom Hals schaffte“; Graz (Stocker) 2017, 607 Seiten; 34,80
€ – zeigt, unter allen auf Figl folgenden ÖVP-Kanzlern bis in die für das
österreichisch-italienische Verhältnis äußerst schwierigen 1960er Jahre
fortsetzen, unter der ÖVP-Alleinregierung unter Josef Klaus ihren
Kulminationspunkt erreichen und darüber
hinaus – wie man als Beobachter späterer Phasen hinzufügen muss – gleichsam
eine politische Konstante bilden, der in aller Regel die beanspruchte
Schutz(macht)funktion Österreichs für
Südtirol untergeordnet worden ist. Allen damals führenden ÖVP-Granden stand Rudolf Moser als emsig
bemühtes, lautlos werkendes und wirkendes Faktotum zur Seite:
Sei es als Organisator konspirativ eingefädelter Spitzentreffen inkognito –
mehrmals in seinem Haus in Sachsenburg – , sei es als Emissär, mal als besänftigender Schlichter, mal als
anspornender Impulsgeber. Mitunter war
er verdeckt als Capo einer geheimen
ÖVP-Sondierungsgruppe unterwegs oder auch gänzlich unverdeckt als Mitglied
einer offiziellen ÖVP-Delegation auf
DC-Parteitagen zugegen. Und nicht selten nahm er die Rolle eines
Beschwichtigers von ÖVP-Politikern und -Funktionären wahr.
Geheime
Treffen
So regte er eine
geheime Begegnungen Figls mit De Gasperi
im August 1951 im Hinterzimmer eines Gasthauses am Karerpass in Südtirol
an, wohin der in Matrei (Osttirol) sommerfrischende österreichische und der in
Borgo (Valsugana) urlaubende italienische Regierungschef reisten, um sich „auf halbem Wege“ und „nach außen hin zufällig“ zu
treffen. Über Inhalt und Ergebnis,
worüber es keine Aufzeichnungen gibt – und weiterer konspirativer Begegnungen
mit anderen Persönlichkeiten – wurden weder
Süd- noch Nordtiroler Politiker informiert. Während des gesamten Zeitraums, für die
Golowitschs Dokumentation steht, agierten ÖVP-Kanzler und
ÖVP-Parteiführung unter gänzlichem Umgehen der dem südlichen
Landesteil naturgemäß zugetanen Tiroler ÖVP. Das ging sogar so weit, dass der
legendäre Landeshauptmann Eduard
Wallnöfer wegen „wachsender Unstimmigkeiten mit der Wiener Parteizentrale“
– insbesondere während der Kanzlerschaft des Josef Klaus, zu dem er ein „unterkühltes
Verhältnis“ hatte – ernsthaft eine
„Unabhängige Tiroler Volkspartei“ (nach Muster der bayerischen CSU) in
Erwägung zog. Indes war der aus dem
Vinschgau stammende Wallnöfer – nicht
allein wegen der Südtirol-Frage, aber vor allem in dieser Angelegenheit – dem Außenminister und nachmaligen Kanzler Bruno Kreisky (SPÖ) ausgesprochen freundschaftlich
verbunden.
Als der Nordtiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (Foto) erkennen musste, dass die Tiroler ÖVP von der Wiener Parteizentrale in Südtirol-Angelegenheiten ständig übergangen wurde, erwog er eine Abspaltung der Landespartei von der „Mutterpartei“ nach CSU-Vorbild. Foto: Archiv Golowitsch
Beim zweiten Geheimtreffen Figls mit De Gasperi am 18. und
19. August 1952 sorgte Moser, der es arrangiert hatte, eigens dafür, den italienischen Regierungschef inkognito über den Grenzübergang Winnebach
nach Osttirol zu schleusen und von dort aus auf sein Anwesen in Sachsenburg
(Bezirk Spittal/Drau) zu geleiten. Während zweier Tage unterhielten sich De Gasperi und Figl bei
ausgedehnten Spaziergängen unter vier Augen; niemand sonst war zugegen.
Moser (links im Bild) begrüßt De Gasperi (rechts) anlässlich eines Geheimtreffens mit Figl vor seinem Haus in Sachsenburg. Foto Archiv Golowitsch
Spaziergänge in Sachsenburg: De Gasperi (links) und Figl Foto Archiv Golowitsch
In einem späteren Rückblick,
angefertigt zu Weihnachten 1973, vermerkte
Moser: „Seit 1949 gab es in meinem
Kärntner Landhaus gar viele Zusammenkünfte, Besprechungen, Beratungen und
Konferenzen, aber nicht selten wurden auch in fröhlichem Zusammensein
weitreichende Beschlüsse gefaßt. Im Gästebuch dieses ,Hauses der Begegnung‘,
wie es vielfach genannt wurde, gibt es von den delikaten Besuchen fast
keinerlei Eintragungen, weil ja jedwede Dokumentation vermieden werden sollte.“
Nach
De Gasperi, mit dem sich Moser bis zu dessen Tod 1954 noch oft
freund(schaft)lich austauschte, wechselten in Italien die Regierungschefs beinahe
jährlich; bis 1981 war das Amt des „Presidente del Consiglio dei Ministri“ sozusagen
ein „Erbhof“ der DC. Bis zum Abschluss des Südtirol-Pakets 1969 unter
Mario Rumor, der zwischen 1968 und 1970 drei wechselnden, DC-geführten und
dominierten (Koalitions-)Regierungen vorstand, hatten sieben DC-Regierungschefs
14 Kabinetten vorgestanden. Mit allen pflegte(n) Moser (und die ÖVP) mehr oder weniger enge Kontakte. Zu Mario
Scelba, der später traurige Berühmtheit
erlangte, weil unter seiner Billigung
1961 in Carabinieri-Kasernen politische
Häftlinge aus den Reihen des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS) gefoltert
worden waren und er als damaliger
Innenminister den Folterknechten
dazu „freie Hand“ („mani libere“)
gelassen hatte, waren sie ebenso intensiv wie zu Fernando Tambroni, Antonio
Segni, Amintore Fanfani und Aldo Moro. 1962 hatte Moser ein geheimes Treffen zwischen dem
stellvertretenden DC-Generalsekretär Giovanni Battista Scaglia sowie der
DC-Fraktionsvizechefin Elisabetta
Conci und ÖVP-Generalsekretär Hermann Withalm
sowie Außenamtsstaatssekretär Ludwig Steiner eingefädelt, das in seinem
Beisein am 12. Mai in der am Comer See gelegenen „Villa Bellini“ der
mit ihm befreundeten Papierfabrikantin
Anna Erker-Hocevar stattfand. Einmütiger
Tenor des Treffens: Südtiroler „Friedensstörer“ seien „gemeinsame Feinde“ und als solche „unschädlich zu machen“.
Mosers Engagement ging so weit, dass er sich nicht
scheute, daran mitzuwirken, hinter dem Rücken des damaligen Außenminister
Kreisky (SPÖ) sozusagen „christdemokratische Geheimdiplomatie“ zu betreiben und
dessen mit Giuseppe Saragat ausgehandeltes „Autonomie-Maßnahmenpaket“ zu desavouieren, welches die Südtiroler
Volkspartei (SVP) dann auch am 8. Januar 1965
für „zu mager“ befand und infolgedessen verlangte, es müsse
nachverhandelt werden. Schon am 6. Januar 1962
hatte er in einer an zahlreiche ÖVP-Politiker und -Funktionäre
verschickten „Südtirol-Denkschrift“ bemerkt, Kreisky betreibe „eine dilettantisch geführte Außenpolitik.“ Das bezog sich just auf den seit den
verheerenden Auswirkungen des Gruber-De Gasperi-Abkommens ersten erfolgreichen Schritt der Wiener Südtirol-Politik, nämlich der Gang
Kreiskys 1960 vor die Vereinten Nationen. Die Weltorganisation zwang
mittels zweier Resolutionen Italien zu „substantiellen Verhandlungen zur
Lösung des Streitfalls“ mit Österreich, womit der Konflikt zudem internationalisiert und der
römischen Behauptung, es handele sich um eine „rein inneritalienische
Angelegenheit“, die Grundlage entzogen worden war.
Josef Klaus
beugt sich römischem Druck
Der
italophile Moser ist nicht selten als
politischer Stichwortgeber auszumachen, wenn es um den Versuch der in Wien
Regierenden – insbesondere der von der ÖVP gestellten Bundeskanzler der ersten 25 Nachkriegsjahre – ging, sich
des mehr und mehr als lästig empfunden Südtirol-Problems zu entledigen. Dies
trifft in Sonderheit auf die „Ära Klaus“ zu. Rudolf Moser fungierte just in der Südtirol-Causa
als dessen enger Berater und wirkte, wie stets zuvor, als graue Eminenz. Die Regierung Klaus ließ sich – von Rom in
der von Wien angestrebten
EWG-Assoziierung massiv unter
Druck gesetzt – auf (verfassungs)rechtlich äußerst fragwürdige (bis
unerlaubte) Händel ein, so beispielsweise auf die auf sicherheitsdienstlicher Ebene mit
italienischen Diensten insgeheim verabredete Weitergabe polizeilicher
Informationen über Südtiroler, obwohl dies für politische Fälle unzulässig war.
Das Wiener Justizministerium und die für Rechtshilfe zuständigen Institutionen
wurden dabei kurzerhand übergangen. Für all dies und einiges mehr gab Klaus,
der hinsichtlich der Südtirol-Frage offensichtlich ähnlich dachte wie sein
deklarierter Freund Rudolf Moser, Forderungen der italienischen Seite
bereitwillig nach. Moser hatte alles getan, um sowohl 1965 in Taormina, wo ein
UECD-Kongress stattfand, als auch im Sommer 1966 ein geheimes Treffen in
Predazzo, wohin Klaus im Anschluss an seinen üblichen Urlaub (in Bonassola an
der Ligurischen Küste) reiste, mit Aldo Moro zustande zu bringen.
Josef Klaus (ÖVP) und Aldo Moro (DC) 1965 in Taormina Foto: Archiv Golowitsch
Aus
dem Dunkel ans Licht
Mosers konspiratives Wirken endete
1969/70. Bevor er sich als Pensionist
aufs Altenteil in seine Geburtsstadt
Wien zurückzog, hinterließ er seine gesamten Aufzeichnungen, Dokumente und
Photographien einem Kärntner Nachbarn.
Begünstigt von einem glücklichen Zufall war es
Helmut Golowitsch gelungen,
an den zeitgeschichtlich
wertvollen Fundus zu gelangen, in den zuvor noch nie ein Historiker ein Auge geworfen
hatte.
Aus dem Moser-Nachlass Fotos Archiv Golowitsch
Ergänzt durch Material aus dem im
niederösterreichischen Landesarchiv verwahrten Nachlass Figls sowie durch einige Dokumente aus dem
Österreichischen Staatsarchiv und dem Tiroler Landesarchiv hat er ihn umsichtig
aufbereitet, ausgewertet und im 1. Band
seiner voluminösen Dokumentation publiziert, worin er die für die Geschehenserhellung
brisantesten Notizen Mosers erfreulicherweise faksimiliert wiedergibt. Alle
Moser’schen Dokumente hat Golowitsch
zudem zu jedermanns Einblick und Nutzung dem Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA)
übergeben. Aufgrund des zutage Geförderten scheint dem Rezensenten indes der
Gedanke nicht ganz abwegig zu sein, dass es sich in Moser um einen
italienischen Einflussagenten gehandelt haben könnte. Anhand womöglich vorhandener
einschlägiger sicherheitsdienstlicher Befunde ad personam wäre es interessant zu überprüfen, ob und wie ihn etwa die österreichische Staatspolizei (StaPo) einschätzte.
Ging es Golowitsch in
Band 1 darum aufzuzeigen, wie es Rom gewissermaßen unter Mithilfe aus Wien ermöglicht
wurde, die betrügerische Scheinautonomie
von 1948 zu verfügen und wie das „demokratische Italien“ unter Führung der Christdemokraten
(DC) skrupellos die faschistische
Politik der Entnationalisierung der Südtiroler fortsetzte, so steht in den Bänden 2 – Titel „Südtirol – Opfer geheimer Parteipolitik“; 462 Seiten, 29,90 € – und 3 – Titel „Südtirol – Opfer politischer
Erpressung“; 528 Seiten, 29,90 € – (beide ebenfalls erschienen im
Stocker-Verlag Graz 2019) – das
geheime politische Zusammenspiel zwischen ÖVP und DC sozusagen en Detail im Mittelpunkt. Dies samt und sonders während
der für den hauptsächlich vom „Befreiungsausschuß Südtirol“ (BAS) mit anderen
als „nur“ politischen Mitteln von Mitte der 1950er bis Ende der 1960er Jahre
und gelegentlich darüber hinaus getragenen Freiheitskampf. Hierin zeigt Golowitsch Punkt für Punkt die – ja, man muss
es in aller Deutlichkeit vermerken – Ergebenheitspolitik
der ÖVP(-geführten respektive Allein-)Regierung(en) gegenüber Italien anhand
getroffener geheimer Absprachen zwischen ÖVP- und DC-Politikern und unter
gezielter Umgehung staatlicher Institutionen sowie insbesondere Außenminister
Kreiskys (SPÖ) auf.
Die römische Politik stand damals unter
wachsendem Druck des BAS, dessen in
Kleingruppen operierende Aktivisten
Anschläge auf italienische Einrichtungen in Südtirol, vornehmlich
Hochspannungsmasten, verübten. Trotz Massenverhaftungen und Folterungen von gefangenen
BAS-Kämpfern in den Carabinieri-Kasernen wurden die italienischen Behörden
dieser Bewegung nicht Herr. Innenminister Mario Scelba (DC), Gebieter über die
Folterer, sah sich unter dem Druck der
Ereignisse zur Einsetzung einer mehr oder minder paritätisch besetzten Studiengruppe zur Erarbeitung einer verbesserten Autonomie
für den 1948 absichtlich in die vom italienischen Ethnicum majorisierte Region Trentino-Alto Adige
gezwängten südlichen Teil Tirols gezwungen
. Die mit der Kommissionstätigkeit verbundene römische Absicht, deren Tätigkeit
allmählich einschlafen zu lassen, war angesichts der trotz vieler nach der
„Feuernacht“ 1961 verhafteten und verurteilten Freiheitskämpfer fortgesetzten Tätigkeit von aus Österreich
operierenden BAS-Aktivisten indes zum Scheitern verurteilt gewesen.
Rom erpresste infolgedessen Wien mit
dem Einlegen seines Vetos gegen die anstehende EWG-Assoziierung Österreichs, indem es
verlangte, in enger Zusammenarbeit mit
den italienischen Sicherheitsdiensten den Südtiroler Widerstand zu brechen und
gänzlich zu eliminieren. Dem diente ein angeblicher BAS-Anschlag am 25. Juni 1967 auf der
Porzescharte, einem Gebirgsgrenzübergang zwischen Osttirol und der Provinz
Belluno, der laut offizieller Darstellung
Roms vier Italienern den Tod gebracht haben sollte. Am 29. Juni erklärte die italienische Regierung, Rom werde sich dem Beginn von EWG-Verhandlungen mit Wien so
lange widersetzen, wie das Hoheitsgebiet Österreichs als „Zufluchtsstätte für
Terroristen“ diene. Woraufhin die ÖVP-Alleinregierung unter Kanzler Klaus in Südtirol-Fragen zunehmend auf italienischen Vorstellungen einschwenkte.
Konstruierter
„Tatort“ und fragwürdige Justizverfahren
Aufgrund überzeugender Archivstudien
und Analysen des (Militär-)Historikers Hubert Speckner sowie dreier Gutachten öffentlich bestellter
und vereidigter Spreng(mittel)sachverständige
besteht heute kein ernstzunehmender Zweifel mehr daran, dass die offizielle
Geschehensdarstellung für das „Porze-Attentat, das keines war“, als Konstrukt
italienischer Dienste gelten muss. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit mussten
aufgrund eines von einem bei einer
Verminungsübung des italienischen Militärs
auf dem nicht weit entfernten Kreuzbergsattel hervorgerufenen Unfalls
die dortigen Toten dazu herhalten, Opfer eines vorgetäuschten BAS-Anschlages an
einem eigens konstruierten und
präparierten Tatort zu sein. Golowitsch breitet Speckners Erkenntnisse in einer
eingängigen Dokumentation noch einmal
minutiös und detailreichen vor uns aus. Und schildert vor allem die folgenreiche
Entwicklung. für die aufgrund von erfolterten „Geständnissen“ zweier in Bozen
inhaftierter österreichischer Verbindungsstudenten des „mörderischen Anschlags auf der
Porzescharte“ von Italien beschuldigten und daher in Österreich inhaftierten BAS-Leute der „Gruppe
Kienesberger“. Fatal war für Dr. Erhard Hartung, Peter Kienesberger und Egon
Kufner), dass sich am 5. Juli 1967 die
österreichische Bundesregierung dem
italienischen Druck beugte und – wider den parteilosen Justizminister, Univ.-Prof.
Dr. Hans Klecatsky, der stets von einer „italienischen Manipultion“ überzeugt
war – die italienische Version des
Geschehens als zutreffend akzeptierte.
Den Beschuldigten wurde im Dezember 1968 der Prozess gemacht. Das österreichische Innenministerium, ja die Republik selbst, spielte dabei eine mehr als fragwürdige Rolle. Dem Gericht wurden wesentliche Beweismittel vorenthalten. Es lagen ihm weder Blutgruppenbe-stimmungen noch Obduktionsbefunde respektive Todesscheine vor, aus denen Näheres über die genaue Todesursache und deren Zustandekommen hätte festgestellt werden können. Anwaltliche Beweisanträge wurden abgelehnt. Ein hoher Sicherheitsbeamter machte darüber hinaus auch noch eine Falschaussage und verschwieg dem Gericht die dem Innenministerium vorliegenden gegenteiligen Augenzeugenberichte zum „Tatort“ auf der Porzescharte. Es kam zu einer erstinstanzlichen Verurteilung. Der Oberste Gerichtshof hob dieses Urteil jedoch auf, und in zweiter Instanz konnte die Verteidigung anhand von Sachverständigengutachten nachweisen, dass die Tat in dem zur Verfügung stehenden Zeitraum von den Angeklagten nicht hatte begangen werden können. Im Mai 1971 kam es zum endgültigen Freispruch in Österreich.
Einvernahme des Beschuldigten Kienesberger im Wiener Porzescharte-Prozess 1961 Foto Archiv Golowitsch
Nicht hingegen in Italien, wo in
Florenz ein Gericht Hartung und Kienesberger zu lebenslänglicher, sowie Kufner
zu 24 Jahren Haft verurteilte. Verfahren und Urteil, die von deutschen und
österreichischen Höchstgerichten als wider die Menschenrechtskonvention verstoßend
erklärte, da die Angeklagten weder anwesend, noch durch Anwälte vertreten
waren, sind noch immer inkraft und würden die sofortige Inhaftierung für
Hartung und Kufner – Kienesberger ist 2015 verstorben – bedeuten, sofern sie die Grenze zu Italien
überschritten.
Von Italien Abhilfe zu erwarten,
scheint ausgeschlossen; seit Antonio Salandra (Regierungschef von März 1914
bis Juni 1916) folgen alle römischen
Polit-Onorevoli, ob links oder rechts, dessen Maxime des „Sacro egoismo“
(„Heiliger Eigennutz“). Seine Geheimdienst-Archive öffnet es – secreto die stato – nicht, es könnten ja viele manipulierte „Wahrheiten“ ans Licht
kommen, die man lieber im Dunkeln belässt.
Peppino Zangrando, als
Präsident der Belluneser Anwaltskammer von hoher Reputation, stellte schon 1994
in der „Causa Porzescharte“, in der er jahrelang recherchiert hatte, ein
Attentat des BAS in Abrede. Er wollte damals schon den Fall neu aufrollen, sein
Wiederaufnahmeantrag scheiterte indes an der Staatsanwaltschaft.
Erlittenes Unrecht
Was folgt aus all dem, was Golowitsch in drei
ansprechend komponierten Dokumentations- und Dokumentenbänden eindringlich vor
uns ausbreitet? Der BAS hat 1967 auf der Porzescharte kein Attentat verübt. Die
dafür verantwortlich gemachten Personen (Prof. Dr. med. Erhard Hartung, Egon
Kufner sowie der bereits verstorbene Peter Kienesberger) sind zu Unrecht
verfolgt und von Italien zu gewissenlosen Terroristen gestempelt worden. Mehr als ein halbes
Jahrhundert nach dem Geschehen, das sich offenkundig anders denn offiziell
dargestellt abspielte, wäre es an der Zeit, das florentinische Schandurteil aus
der Welt zu schaffen, mit denen sie gänzlich wahrheits- und rechtswidrig für
eine offenkundig nicht begangene Tat verurteilt und damit zu blutrünstigen Mördern gestempelt worden sind. Es versteht
sich daher eigentlich von selbst, dass die trotz Freispruchs (in Österreich)
nach wie vor mit dem Makel der Täterschaft behafteten und in ihrer persönlichen
(Reise-)Freiheit eingeschränkten Personen endlich offiziell und überdies
öffentlich vernehmlich zu rehabilitieren sind.
Leisetreter am Ballhausplatz
Ein aus dem Österreichischen Nationalrat
(Parlament) heraus an den damaligen Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ)
gerichteter dahingehender Versuch des FPÖ-Abgeordneten Werner Neubauer vom 17.12.2013
erwies sich als ergebnislos. Faymann gab sich in seiner schriftlichen Antwort
vom 17.02.2014 (GZ: BKA-353.110/0008-I/4/2014) auf Neubauers umfangreichen Fragenkatalog
ahnungslos – sowohl gegenüber den Erkenntnissen aus Speckners
Forschungsergebnissen, als auch gegenüber Fragen nach eventuell vorliegenden
Unterlagen zur „Intervention des Kanzlers Klaus bezüglich der Prozessführungdurch den Richter Dr. Kubernat im Dezember 1968 beim
Landesgerichtspräsidenten“. Und in allen anderen Fragen erklärte
Faymann das Kanzleramt für unzuständig.
Auch an das österreichische Staatsoberhaupt
gerichtete Anfragen erwiesen sich letztlich als nicht zielführend. Der damalige
Bundespräsident Dr. Heinz Fischer hatte zwar, „Auftrag gegeben, dieses
Buch eingehend zu studieren. Erst nachher wird die Beurteilung der Frage möglich
sein, ob sich über den bisher schon bekannten Sachverhalt hinaus neue
Gesichtspunkte in dieser Angelegenheit ergeben“, wie er am 28.August
2013 an den „sehr geehrten Herrn Klubobmann des Freiheitlichen
Parlamentsclubs, Abg. z. NR Heinz-Christian Strache, FPÖ
Bundesparteiobmann“ schrieb.Doch am 7. Februar 2014 teilte er diesem mit: „Wie ich in meinem
Schreiben vom 28. August 2013 inAussicht gestellt habe, wurde dieses
Buch von Mitarbeitern der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei durchgelesen.
Ein Beweis dahingehend, dass die vom italienischen Geschworenengericht
verurteilten Personen nicht ,die Täter
gewesen sein konnten‘, ist aus dem Buch
nach Ansicht meiner Mitarbeiter nicht eindeutig abzuleiten. Was mögliche
Begnadigungen anlangt, darf ich auf die Ihnen bekannten, bisher schon gesetzten
Schritte hinweisen. Ich werde dieses Thema bei geeigneten Gelegenheiten auch in
Zukunft im Auge behalten.“
Auf neuerliches Nachsetzen des Abgeordneten
Neubauer (Schreiben vom 1. 12. 2014) ließ Fischer am 12.12. 2014 seinen
„Berater für europäische und internationale Angelegenheiten“,
Botschafter Dr. Helmut Freudenschuss, antworten (GZ S130040/221-IA/2014). Darin
hieß es, es gehe „nicht um die Bewertung desBuches, sondern
ausschließlich darum, ob die darin enthaltenen Ausführungen über die bereits
gesetztenSchritte hinaus eine weitere Intervention gegenüber den
italienischen Organen nahelegt. Sie wissen sicher,dass der Herr
Bundespräsident das Thema der Begnadigungen immer wieder – zuletzt am 11.
November2014 – im Gespräch mit dem italienischen Staatspräsidenten zur
Sprache gebracht hat. Die italienischenVorbedingung – nämlich
Gnadengesuche der Betroffenen – ist aber offenbar nicht erfüllbar.“
Unziemliche Empfehlungen und Schande für Österreich
Seit Jahren raten und/oder empfehlen regierende
österreichische Bundes- und Landespolitiker (vornehmlich jene Tirols und
zuvorderst jene von ÖVP und SPÖ), aber auch Politiker des 1919 von Italien
annektierten südlichen Teils Tirols, vorzugsweise jene der Südtiroler
Volkspartei (SVP), „Betroffenen“, deren Taten – seien sie bewiesen oder
unbewiesen; seien sie begangen oder nichtbegangen; seien sie von BAS-Aktivisten
verübt oder diesen durch italienische Manipulationen untergeschoben worden –
bereits ein halbes Jahrhundert und länger zurückliegen, mögen doch bitteschön
Gnadengesuche einreichen. Mit Verlaub – das ist Chuzpe.
Abgesehen davon, dass italienische Staatsoberhäupter längst Terroristen aus den Reihen der „Roten Brigaden“ respektive aus dem rechtsextremistischen Milieu begnadigten, sich bisher aber stets ablehnend gegenüber den letzten verbliebenen Südtirolern, setzt der Gnadenakt für Südtirol deren Gnadengesuch voraus. Alle unrechtmäßig Beschuldigten und zudem menschenrechtswidrig Verurteilten – und um solche handelt es sich bei den Dreien der „Causa Porzescharte –, wären doch von allen guten Geistern verlassen, so sie um Gnade bettelten für eine Tat, die sie nicht begangen haben. Dass indes maßgebliche Organe der Republik Österreich, die sich damals schon hasenfüßig und Italien gegenüber unterwürfig verhielten, auch 50 Jahre danach noch ihrer Fürsorgepflicht für zwei ihrer jahrelang politisch und justitiell verfolgten Staatsbürger (offenkundig) nicht nachkommen (wollen), darf man mit Fug und Recht eine Schande nennen.
Eine Schande für die österreichische
Politik war es auch, die von Rom unter ständigen
Hinweisen auf das EWG-Veto verlangte „Präventivhaft“ – wie sie in Italien auf
der Grundlage fortbestehender faschistischer Rechtsnormen möglich war – über geflüchtete Südtiroler zu verhängen und sogar
deren Auslieferung zu verlangen,
füglich zu umgehen. Weil sich besagter parteifreier Justizminister
Klecatsky unter Hinweis auf die österreichische
Rechtsordnung dem im Ministerrat allen
Ernstes vorgetragenen Ansinnen anderer entschieden entgegentrat, womit die
Sache formell erledigt war, hatte man
jedoch im Wiener Innenministerium einen Rom entgegenkommenden Ausweg erdacht: Die
von den italienischen Stellen namhaft
gemachten Südtiroler wurden kurzerhand in
Schubhaft genommen. Gelang es diesen Schubhäftlingen trotz enormer Schwierigkeiten, eine gerichtlich verfügte Aufhebung ihrer
Inhaftierung zu erreichen, sperrte man sie unter einem neuen Schuldvorwurf wieder ein.
Derartige und andere unschöne Vorgehensweisen stehen in Golowitschs drittem
Band im Zentrum. Dazu gehört samt und sonders die politische Preisgabe einer
fundamentalen, auf internationalem Recht
fußenden Absicherung des Südtiroler
Autonomie- „Pakets“. Und dazu gehört nicht zuletzt die dokumentarisch belegte
Schilderung von Winkelzügen, die im diplomatischen Hintergrund, somit im
Geheimen (also der Öffentlichkeit und den Südtirolern als Betroffenen verborgen
bleibend) abliefen und politische Händel
ermöglichten.
Dr. Bruno Hosp war als junger Student
mit führenden BAS-Kämpfern wie beispielsweise Jörg Klotz und Luis Amplatz
befreundet. Hosps Wort ist auch aufgrund langjähriger Mitwirkung an der politischen Gestaltung
Südtirols in der „Paket- und Nachpaket-Ära“
– als SVP-Landesparteisekretär
unter Silvius Magnago; sodann viele Jahre Landesrat für deutsche und ladinische
Kultur sowie Denkmalpflege; sohin auch
als Zeitzeuge aus der Erlebnisgeneration
– von Gewicht. In seinem von persönlichen Erfahrungen geprägten und von den
jüngeren zeitgeschichtlichen Forschungsergebnissen beeinflussten Geleitwort „Südtirolpolitik mit Makeln“ zu Golowitschs drittem Band stellt er sich und
allen Betroffenen sowie Interessierten die Frage: „Wie sah die österreichische Südtirolpolitik jener Jahre wirklich aus?“
Räsonierend beantwortet er sie: „Generell vermisst man das österreichische
Selbstbewusstsein gegenüber dem italienischen Staat, der seinerseits ,Freundschaft‘ gegenüber Österreich im Falle Südtirols meist
vermissen ließ. Es ist eine weiterwirkende politische Konstante. Die
österreichische Konstante dagegen ist die Grundtendenz, lieber Wohlverhalten zu
zeigen als strategisch-entschlossene Politik im Landesinteresse, zu dem
auch Südtirol zählt, zu betreiben.“
Bruno Hosp und der mit ihm befreundete Freiheitskämpfer Jörg Klotz Foto (1965) privat
Ernüchternd fährt der ernüchterte Hosp
fort: „Der unvoreingenommene Leser der Darstellung
von Helmut Golowitsch kommt nicht umhin festzustellen, dass die Südtirolpolitik
der ÖVP und der Regierung Dr. Josef Klaus in ihrer Grundorientierung zwar
Südtirol helfen wollte, doch der Wunsch Österreichs nach dem Beitritt zur EWG zu
oft sehr peinlichen Unterwerfungsgesten gegenüber der italienischen Staatsmacht
im Allgemeinen und der Democrazia Cristiana (DC) mit ihrer
zentralistisch-nationalistischen Ausrichtung im Besonderen führte. Dies wurde
Südtirol natürlich verheimlicht. Eingestanden hat man es bis heute nicht. Das
viel beschworene ,Herzensanliegen Südtirol‘ blieb in seiner politischen Ausrichtung
oft halbherzig. Man wollte alles für Südtirol tun, aber zugleich nichts, was
die italienische Staatsmacht störte. Die Regierung in Wien umging auch oft
genug das Bundesland Tirol, dessen Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (ÖVP), sein
Stellvertreter Dr. Hans Gamper (ÖVP), Landesrat Rupert Zechtl (SPÖ) und einige andere
herausragende politische Persönlichkeiten stets strategisch- konsequent
Südtiroler Lebensinteressen vertraten. Die Regierung Dr. Josef Klaus umging
aber auch ihren SPÖ-Außenminister Dr. Bruno Kreisky, der diplomatisch-weitsichtig
und kämpferisch-unbeugsam für Südtirol eintrat, die Südtirolfrage vor die UNO
brachte und in seiner Zeit als Bundeskanzler wohlbedacht keine Anstalten
machte, den zweifelhaften IGH-Vertrag zu ratifizieren.“
Diesen Feststellungen Hosps ist
uneingeschränkt zuzustimmen, weshalb der Rezensent zu seiner Schlussfolgerung
gelangt: Historische Forschung ist stets
ein Ringen um Wahrheitssuche, und
Geschichtsschreibung ist ausschließlich der Wahrheit verpflichtet, nicht
einer Ideologie, einem sogenannten „erkenntnisleitenden Interesse“, welches
direkt zu einer mitunter staatlichen Interessen entsprechenden Geschichtspolitik
führt: Wie sie heutzutage nicht selten
unter der Vorgabe, allein „dem Humanen verpflichtet“ zu sein, die Regel statt die Ausnahme ist. Und
worunter das unbestechliche Urteil leidet. Geschichtsforschung und -schreibung
hat jedweder Versuchung zu widerstehen, aus berufspolitischem oder akademischem
Opportunismus oder beidem, bisweilen gepaart mit Sendungsbewusstsein und/oder
Eiferertum, (politisches,
wirtschaftliches, soziales, gesellschaftliches) Geschehen anders zu schildern als es wirklich war und zu
bewerten, wie es politischer Korrektheit Zeitgeist und Mainstream frommt.
Helmut Golowitschs dreibändige historisch-politische Dokumentation zur Südtiroler Zeitgeschichte folgt den Maximen von Wahrheit und Gerechtigkeit, zeigt auf, was andere ignorier(t)en und/oder (un)bewusst ausblende(te)n. „Jeder wahrheitsbewusste und weltoffene österreichische Patriot und jeder Südtiroler, der sich aus guten Gründen als Österreicher fühlt, wird das Vaterland Österreich nicht weniger lieben, wenn erunverfälscht die ganze Wahrheit erfährt, wie die österreichischen Regierungen jener Jahre es mit Südtirol wirklich hielten. Vaterlandsliebe, die die Wahrheit nicht ausblendet, wird sich vielmehr mit einem sehr nüchternen Sinn verbinden, der zur politischen Klarsicht befähigt“, schreibt Hosp zurecht. Golowitschs quellengesättigte Tatsachenschilderung und seine Beschreibung der Zusammenhänge in drei ins sich geschlossenen und mit unzähligen Originaldokumenten angereicherten Bänden führen zu einer notwendigen vertieften, korrigierenden Sicht auf die österreichischen Südtirolpolitik, der weite Verbreitung zu wünschen ist.
Zum Tode des
Südtiroler Freiheitskämpfers Sepp Innerhofer – ein zeitgeistwidriger Nachruf
Er
war einer der Letzten. Sepp Innerhofers
hochaufragende Gestalt und
markanter, entschlossener Gesichtsausdruck zeugten bis ins hohe Alter
äußerlich von jener Willensstärke, welche die Männer auszeichnete, die sich mit
dem Frangarter Greißler und Kleinbauern Sepp Kerschbaumer zusammentaten, um im Herbst 1956 den
Befreiungsauschuss Südtirol (BAS) zu gründen.
Gleichgesinnte scharten sich um den strenggläubigen Charismatiker
Kerschbaumer und wirkten in konspirativen Klein- und Kleinstgruppen daran mit,
die Welt(öffentlichkeit) auf die vom „demokratischen“ Nachkriegsitalien in nach
wie vor totalitärer Gebärde sowie
partiell fortgeltender faschistischer
(Un-)Gesetzlichkeit betriebene Unterjochung ihrer Heimat sowie
Kujonierung jenes deutschösterreichischen und ladinischen Bevölkerungsteils
aufmerksam zu machen, dessen Italianisierung seit dem (Unrechts-)Vertrag von
Saint-Germain-en-Laye und der daraus folgenden Annexion des Landes unterm
Brenner durch Italien 1919 weder mittels Entnationalisierung noch durch
Umsiedlung gelungen war. Und dem die Siegermächte sowohl nach dem
unglückseligen Ersten Weltkrieg, in den die damaligen Staatenlenker nach
Ansicht des renommierten australischen Historikers Christopher Clark
Schlafwandlern gleich zogen, als auch nach dem verhängnisvollen zweiten
Weltenbrand, den der gebürtige Österreicher Adolf Hitler unter aktiver Mithilfe
seines italienischen Achsenpartners
Benito Mussolini entfachte, die Selbstbestimmung verweigerte.
Die
Aktivisten des BAS verlangten, worauf kein Geringerer als der unlängst im 92.
Lebensjahr verstorbene und unter
Beteiligung politischer Prominenz sowie unzähliger Trauergäste aus allen
Bevölkerungsschichten in Schenna bei Meran zur letzten Ruhe gebettete Sepp
Innerhofer in vielen seiner öffentlichen Mahnrufe stets hinwies, nämlich die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts
durch den in einen wesensfremden Staat gezwungenen Tiroler Volksteil zwischen
Brenner und Salurner Klause bzw. zwischen Reschen und Dolomiten. Und sie wandten sich in Wort
und ersichtlicher wie vernehmbarer Tat – woran es den meisten ihrer
Volksvertreter aufgrund realpolitischer,
von Rom bestimmter Fakten zwangsläufig, zum Teil aber auch aus einer gewissen
Selbstfesselung mangelte – gegen die
römische Verfälschung eines 1946
(aufgrund Drucks der Alliierten) zwischen dem österreichischen
Außenminister Karl Gruber und dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide
DeGasperi in Paris zustande gekommenen vertraglichen Übereinkommens. Darin war den Südtirolern die Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten in
Form einer statuarisch festgelegten Landesautonomie zugestanden worden.
Hatten die BAS-Akteure zunächst noch
die Hoffnung, dass sich nach der machtvollen Demonstration von 30 000
Südtirolern auf Schloß Sigmundskron und mehrmaligen Vorstößen Wiens – so der
Intervention des damaligen Außenministers Bruno Kreisky vor den Vereinten
Nationen zugunsten der Südtiroler – die starre Haltung Roms ändern könnte, so
sahen sie sich alsbald getäuscht. Die Geduld sei daher zugunsten der Tat
gewichen, wie es Innerhofer einmal ausdrückte, weshalb man im BAS beschlossen
habe: „Wir müssen lauter werden, sonst hören die uns da unten nicht.“ Sie
wurden dann sehr laut, die idealistischen Kämpfer des BAS. So laut, dass ihr
„großer Schlag“, das Sprengen von annähernd
40 Strommasten in der sogenannten „Feuernacht“ (11. auf 12. Juni 1961)
nicht nur im weiten Rund um Bozen sowie an Eisack und Etsch, sondern weit
darüber hinaus gehört wurde. Nicht zuletzt dieses Fanal gab – wider
anderslautende Auffassungen, Deutungen
und geschichtspolitische Interpretationen – den Anstoß für Verhandlungen der
beteiligten Konfliktparteien, woraus schließlich das zwischen 1969 und 1972 staatsrechtlich
inkraftgesetzte neue Autonomie-Statut hervorging, auf dessen Grundlage die
heutige (gesellschafts)politische Verfasstheit Südtirols ruht.
Bis es soweit war, begleiteten
zahlreiche Rückschläge den Verhandlungsprozess zwischen Wien sowie Bozen und
Rom. Und die BAS-Aktivisten durchlitten ein von der italienischen Staatsgewalt
legitimiertes Purgatorium, das wider die
Menschenrechte verstieß und eines demokratischen Rechtsstaates gänzlich
unwürdig war. Südtirol wurde in
Belagerungszustand versetzt und von
zusätzlich hinbeorderten Sicherheitskräften förmlich überzogen, sodass mehr als
20.000 Soldaten, Carabinieri und Spezialisten der Geheimdienste den verhängten Ausnahmezustand zu
gewährleisten und jede „feindliche
Regung“ zu unterdrücken hatten. 150 Freiheitskämpfer des BAS wurden als
„bombardieri“ bzw. „terroristi“ inhaftiert, die meisten von Angehörigen einer
Spezialeinheit gefoltert, denen Italiens Innenminister Mario Scelba die „Carta
bianca“ für ihr barbarisches Tun erteilte.
Sepp Innerhofer, der Obstbauer aus
Schenna, der zwei Elektromasten gesprengt hatte, war unter den Gefolterten. In der Carabinieri-Kaserne zu Eppan musste er
über mehrere Tage hin Faustschläge, Schläge mit Gewehrriemen und Gewehrkolben
ins Gesicht sowie auf alle Teile seines nackten Körpers bis hin zur
Bewusstlosigkeit ertragen. Man schlug
ihm einen Zahn aus, riß ihm Haarbüscheln an Kopf und Geschlechtsteil aus, ließ ihn stundenlang auf
Fußspitzen stehen und platzierte eine Glühlampe direkt vor seinem Kopf. Man
entzog ihm Essen und Trinken und erzwang schließlich seine Unterschrift unter
ein „Geständnisprotokoll“, ohne dass er dieses überhaupt lesen durfte. In einem
aus dem Gefängnis in Bozen, in dem er dann einsaß, herausgeschmuggelten und an
Landeshauptmann Silvius Magnago gerichteten Brief vom 22. September 1961
schilderte Innerhofer die erlittenen
Qualen. Eine Reaktion blieb aus.
Wie
andere BAS-Aktivisten wurde auch Innerhofer in Mailand der Prozess
gemacht. Das Urteil lautete drei Jahre Gefängnis und – nach der Haftentlassung – Verlust der Bürgerrechte für 35 Jahre.
Jeglicher Besitz war ihm untersagt, er durfte keine öffentlichen Ämter
bekleiden und musste sich regelmäßig bei den Carabinieri melden. Erst im Jahre 2000 konnte er wieder
das Wahlrecht ausüben.
Verbittert hat ihn dies nicht. Bis
ins hohe Alter hielt der Obstbauer Vorträge über das damalige politische und
gesellschaftliche Geschehen aus der
Perspektive des eigenen Erlebten und
Erlittenen. Als aktiver Streiter für die
Südtiroler Sache legte das BAS-Gründungsmitglied aus der Mitte der Bevölkerung Zeugnis ab vom Gebaren Italiens, das
seinerzeit die Südtiroler entrechtete und gleich einem Kolonialvolk
unterjochte.
Innerhofer trat zwar stets für das Recht auf Selbstbestimmung
ein, gab sich aber letztlich doch mit dem auf der Grundlage der schließlich
gewährten, rechtlich einigermaßen gesicherten Autonomie erlangten Zustand
zufrieden. Regelwerk und Ausgestaltung
dieser politisch-kulturellen Territorialautonomie werden trotz ihrer immer wieder zutage tretenden,
durch römischen Zentralismus verursachten administrativen Einschränkungen von Politik und Medien gerne als
Projektionsfläche für die Bewältigung
von Problemen anderer in fremdnationaler Umgebung beheimateten Volksgruppen
herangezogen sowie als vorbildgebendes
Beispiel für die friedliche Eindämmung von Konflikten in und zwischen Staaten
mit ethnischen Konflikten gepriesen.
Indes setzte sich Innerhofer mit seiner immer wieder
öffentlich vorgetragenen Zufriedenheitsbekundung zwangsläufig
in einen gewissen Widerspruch zur festen Auffassung jenes beträchtlichen Teils der BAS-Aktivisten, deren Haltung und
uneigennützigem Einsatz sich beispielsweise die „Kameradschaft ehemaliger Südtiroler
Freiheitskämpfer“, der Südtiroler
Heimatbund (SHB) und der Südtiroler Schützenbund (SSB) nach wie vor auf das
engste verbunden fühlen und für deren eigentliche Ziele
vornehmlich die deutschtiroler
Oppositionsparteien im Bozner Landhaus (Südtiroler Landtag) politisch einstehen. Im Gegensatz zur (heutigen
Führung der) Südtiroler Volkspartei (SVP) und der seit 1945 von ihr dominierten
Landesregierung, die die – auch infolge entscheidender Mithilfe des BAS
errungene – Autonomie quasi als Wert an
sich verabsolutieren, erachten sie diese nämlich nicht als Endzustand, sondern
lediglich als Zwischenetappe auf dem nach wie vor zu verfolgenden Weg hin zur
Selbstbestimmung.
Sie geben sich daher keinesfalls mit
jener im österreichischen Außenministerium ersonnenen und während der Amtszeit
des damaligen Ressortchefs Sebastian Kurz
wider „die Ewiggestrigen“ propagierten diplomatischen Formel zufrieden,
welche sich mit der Daseinszufriedenheit(sbekundung) des verstorbenen Sepp
Innerhofer deckt, wonach es sich bei der Südtirol-Autonomie um eine „besondere
Form der Selbstbestimmung“ handele. Das
Ziel der BAS-Erben entspricht vielmehr dem „Los von Rom“, mithin dem
ursprünglichen Verlangen aller Südtiroler und der ihnen zugetanen politischen
Kräfte in Österreich und darüber hinaus nach Ausübung des Selbstbestimmungsrechts
sowie in letzter Konsequenz nach
Wiedervereinigung mit dem Bundesland Tirol und also mit dem Vaterland
Österreich.
Niemand
fasste die Malaise in treffendere Worte als der Landeskommandant der Südtiroler
Schützen: Dass er seit nunmehr hundert Jahren zum italienischen Staat gehöre,
sei für den südlichen Teil Tirols negativ. Demgegenüber müsse, wer einen
ungetrübten Blick auf die Geschichte werfe, das Positive darin erkennen, dass
„wir nicht von italienischen Politikern, italienischer Verwaltung und
italienischen Gewohnheiten, die wir uns angeeignet haben, abhängig waren, als
Tirol noch eins war“. Major Elmar Thaler nahm die alljährlich stattfindende Landesgedenkfeier für den
Volkshelden Andreas Hofer in Meran zum Anlass, um „überbordende Gesetze,
ausufernde Bürokratie, Schikanen gegenüber Betrieben, Beschlagnahme von Autos,
nur weil ein ausländisches Kennzeichen drauf ist“, zu kritisieren, denen seine
Landsleute unterworfen seien.
Nicht
allein das – als unlängst 30 Zentimeter Neuschnee und einige Lawinen den
Verkehr über den Brenner lahmgelegt hatten, sodass zwischen Innsbruck und
Trient (vice versa) für nahezu 30 Stunden so gut wie nichts mehr ging, habe
„jeder, egal ob in Nord- oder Südtirol, dem anderen die Schuld gegeben“, sagte
Thaler. Zurecht fragte der ranghöchste Repräsentant des nach wie vor uneingeschränkt
für die Tiroler Landeseinheit einstehenden Südtiroler Schützenbundes (SSB), wo
denn in dieser winterlichen Notsituation die angeblichen Segnungen der seit
einem Vierteljahrhundert in Sonntagsreden vielbeschworenen „Europaregion Tirol“
ihren Niederschlag gefunden hätten. Fehlanzeige – dieses Gebilde existiere
lediglich auf dem Papier; es sei bei den Politikern, die stets davon sprächen,
noch nicht angekommen, und beim Volk schon gar nicht, resümierte Thaler.
Ein
niederschmetternder Befund
Das
ist ein niederschmetternder Befund, der von der überwiegenden Mehrheit aller Tiroler zwischen Kufstein und Salurn
sowie aller Welschtiroler (Bewohner des Trentino) zwischen Kronmetz
(Mezzocorona) und Borghetto geteilt werden dürfte, sofern diese überhaupt etwas
mit diesem Begriff respektive dessen schlagwortartiger Verkürzung „Euregio
Tirol“ anzufangen wissen. Diese Skepsis
sieht sich in der Umfrage „Jugend und Politik“ des Südtiroler
Statistik-Instituts ASTAT vom August
2017 bestätigt, welche ergab, dass sich lediglich 17,1 Prozent der Personen im
Alter bis zum 30. Lebensjahr für die
„Euregio-Ebene“ interessier(t)en. Dies wiederum
ist Beleg genug dafür, dass besagtes Gebilde ohne inhaltliche Tiefe ist und offenkundig
weit unter dem bleibt, wofür es stehen und was es eigentlich erbringen soll(te).
Am
1. Januar 1995 war Österreich der Europäischen Union (EU) beigetreten. Damit
eröffneten sich neue Chancen und Möglichkeiten in der Südtirol-Politik. Die Teilhabe am EU-Binnenmarkt sowie der 1997
vollzogene Beitritt zum Schengener
Abkommen beendeten trotz formellen Erhalts der Staatsgrenze zwischen den beiden
Tiroler Landesteilen das zuvor gängige Grenzregime, womit die historisch stets
als „Schandgrenze“ empfundene Teilungskonsequenz aus der aus dem italienischen Seitenwechsel im Ersten
Weltkrieg erlangten Kriegsbeute in ihrer Wirkung erheblich an Trennschärfe
verlor. Wenngleich der institutionelle Abbau der Grenze eine erhebliche
Erleichterung des Alltagslebens auf beiden Seiten sowie eine Intensivierung des grenzüberschreitenden
Verkehrs zur Folge hatte, ist das damit von der Politik beidseits des Brenners
wie im Mantra beschworene
„Zusammenwachsen“ der Landesteile bisher allenfalls ein frommer Wunsch
geblieben.
Zusammenwachsen der
Landesteile?
Parallel
zu den grundstürzenden Veränderungen, welche nach dem Kollaps des Kommunismus,
dem Fall der Mauer in Berlin und der Beseitigung des Drahtverhaus quer durch
Europa sowie dem Untergang der Sowjetunion und er Auflösung Jugoslawiens die
politische Geographie neu zeichneten, stellte man in den Landtagen Tirols und
Vorarlbergs sowie Südtirols und des Trentino Überlegungen an, wie man sich
möglichst in institutionalisierter Form zunutze machen könnte, was sich – über
die nach dem Pariser Vertrag von 1946 zwischen Österreich und Italien mühsamen
errungenen sogenannten Accordino-Vereinbarungen
(geltend für Tirol, Süd- und Welschtirol) hinaus – an „regionaler
Subsidiarität“ bot, wie sie schon EG-Europa begrenzt zuließ. Insbesondere der
1992 errichtete Vertrag von Maastricht (aus der EG wurde die EU) schuf mit
seinem inkorporierten – aber nie politisch konsequent verwirklichten – Konzept
eines „Europas der Regionen“ die
Voraussetzungen für das inhaltlich und institutionell nur rudimentär
ausgefüllte Projekt der „Euregio Tirol“.
Die
Idee dazu war am 21. Mai 1991 im Rahmen
einer gemeinsamen Sitzung der Landtage der österreichischen Bundesländer Tirol
und Vorarlberg sowie der beiden (seit De Gasperis Verwässerung des Pariser
Vertrags von 1946 im 1. Autonomiestatut 1948
in einer Region zwangsvereinigten)
italienischen Provinzen Südtirol und Trient geboren worden. Obwohl sich
Vorarlberg nach der zweiten gemeinsamen Sitzung am 2. Juni 1993 daraus zurückzog, begannen die entsandten
Delegierten, das Konzept sukzessiv weiterzuentwickeln. Im Mittelpunkt stand
dabei insbesondere die weitere Ausgestaltung der grenzüberschreitenden
Zusammenarbeit. Dies schlug sich im 1996 vorgestellten Statut über die künftige
politische Marschroute sowie die institutionelle Ausgestaltung der Europaregion
Tirol nieder.
Rom legt sich quer
Um
den von Beginn an vorherrschenden römischen Vorwurf der Sezession zu
entkräften, bewegte sich die institutionelle Ausgestaltung strikt innerhalb
geltender verfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen sowie auf dem völkerrechtlichen
Grundsatz des am 21. Mai 1980 getroffenen Madrider Rahmenübereinkommens
bezüglich grenzüberschreitender Zusammenarbeit von Gebietskörperschaften. Zur
Vermeidung von Problemen mit der italienischen Regierung nahm man – zunächst – Abstand von der ursprünglichen
Idee, die Europaregion als öffentliche Körperschaft mit eigener finanzieller
Ausstattung und Völkerrechtssubjektivität
einzurichten.
Die
Initiatoren erhofften, dass durch die
grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Wirtschaft und Politik nicht nur die
wirtschaftliche Prosperität der Regionen, sondern damit auch eine Stärkung des
Autonomie- und Föderalismusprinzips auf nationaler und EU-Ebene einhergehen
würde. Und insbesondere in Innsbruck und
Bozen verband man mit der Europaregion die Hoffnung, dass die Kooperation nicht
nur dem soziokulturellen „Auseinanderdriften“ der Landesteile Einhalt gebieten
würde, sondern sogar das Gefühl der gemeinsamen Identität wiederaufleben
ließe. So beriefen sich führende
Politiker beider Landesteile verstärkt auf gemeinsame Herkunft sowie Identität
und begrüßten zugleich den faktischen Abbau der trennenden „Unrechtsgrenze“ im
Rahmen der Europaregion.
„Sezessionismus,
Irredentismus, Pangermanismus“
Dies
führte sogleich dazu, dass von den damaligen
italienischen Regierungsparteien nicht etwa nur die – aus dem
neofaschistischen MSI hervorgegangene – Alleanza Nazionale (AN) unter Fini,
sondern auch die von Ministerpräsident Silvio Berlusconi geführte Forza Italia
(FI) immer wieder den reflexartigen Vorwurf
des Sezessionismus / Irredentismus erhoben.
Aus anfangs vereinzelten Vorwürfen entwickelte sich ein breiter
Proteststurm in Rom, der 1995 in einen handfesten politischen Konflikt mündete. Auslöser war die Absicht der drei Europa-Regionisten,
ein gemeinsames Verbindungsbüro in
Brüssel einzurichten, um selbständig und überzeugtermaßen effektiver die
eigenen regionalen Interessen gegenüber den EU-Institutionen vertreten zu
können. Obwohl Innsbruck ebenso wie
Bozen und Trient versicherten, dass man allein föderalistische Absichten verfolge, da das Büro auf
ausschließlicher Grundlage von EU-Rechtsbestimmungen geschaffen werde, geriet
insbesondere die Südtiroler Landesregierung ins Kreuzfeuer Roms.
Selbst
von höchster Ebene wurden offene Vorwürfe oder gar Drohungen gegenüber der
Landesregierung geäußert. So etwa von der Generalstaatsanwaltschaft in Trient,
die die Südtiroler der „zunehmenden Staatsfeindlichkeit“ bezichtigte. Auch Staatspräsident
Luigi Scalfaro drohte Bozen offen an, etwaige Sezessionsabsichten stellten einen
evidenten Verstoß gegen die Verfassung dar und zögen schwerwiegende
Konsequenzen nach sich. Im internen Jahresbericht des italienischen
Innenministeriums wurde das Verbindungsbüro als „provozierend“ und „subversiv“
eingestuft, und zufolge von Anzeigen mehrerer rechter italienischer Parteien,
besonders aus deren Südtiroler
Dependancen, wonach mit der Europaregion die „Zerstörung der Einheit Italiens“
oder „die Rückgliederung Südtirols nach Österreich“ angestrebt werde, wies
Ministerpräsident Lamberto Dini die Staatsanwaltschaft in Rom an, den Vorwürfen
nachzugehen. Wenngleich selbst Büros von
SVP-Abgeordneten durchsucht wurden, konnten die ermittelnden Staatsanwälte
keine Indizien für den Vorwurf des Sezessionismus finden. Schließlich musste
der italienische Verfassungsgerichtshof anno 1997 die Rechtmäßigkeit des Büros
anerkennen.
Wien verharrt in
Passivität
Trotz
dieses zwischen 1995 und 1997 das politische Klima zwischen Rom, Trient, Bozen
und Innsbruck vergiftenden Konflikts vermied es die österreichische Regierung,
zugunsten der Europaregion Tirol Partei
zu ergreifen, sondern verharrte am Ballhausplatz in Passivität. In internen Aktenvermerken der Regierungen
Vranitzky/Mock bzw. Vranitzky/Schüssel wurde
kritisiert, Bozen und Innsbruck hätten
es verabsäumt, Wien in
ausreichendem Maße über das Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Außenminister Alois
Mock sowie sein Nachfolger Wolfgang Schüssel vermieden es, öffentlich Stellung
zu nehmen. Ihre Partei ÖVP befleißigte sich der
Zurückhaltung, wohingegen Grüne
und Teile der in großer Koalition mit der ÖVP verbundenen Kanzlerpartei
SPÖ sogar offen vor angeblichen Gefahren
eines Wiedererstarkens des „pangermanistischen Nationalismus“ warnen zu müssen glaubten. Lediglich die FPÖ
sowie die Schützenverbände Tirols, Südtirols und Welschtirols sprachen sich geschlossen und eindeutig zugunsten
der Europaregion aus. Die
österreichischen Parteien spielten Italien faktisch in die Hände, indem Rom das Projekt mit dem
Hinweis darauf, dass FPÖ wie Schützen zuvor
offen das Recht auf Selbstbestimmung für Südtirol eingefordert hätten,
als „Föderalismusprojekt von Rechtsaußen“ zu stigmatisieren trachtete, das dem „sezessionistischen Pangermanismus“
diene.
„Aufstand gegen
Gleichgültigkeit“
Da
es seit der Initiierung eher durch Konflikte mit Rom denn durch signifikante
politische Erfolge aufgefallen war, erlangte das Projekt erst mit der nomenklatorischen Prägung „Europaregion Tirol Südtirol Trentino” wieder
ein wenig Auftrieb, zumal da sich die drei Landesregierungen verstärkt seiner
Erweckung aus dem „Dornröschenschlaf” widmeten.
Ziel war die Stärkung der „Achse Innsbruck-Bozen-Trient“ auf kultureller
Ebene sowie der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit
in Politik und Wirtschaft. Im Kulturellen
erhoffte man sich, den seit Jahrzehnten doch recht weit fortgeschrittenen
Entfremdungsprozess südlich und nördlich des Brenners zu stoppen. Obwohl das
postulierte Ziel eines „Aufstands gegen die Gleichgültigkeit“ – am 21. Februar
2009 auf Schloss Tirol begrifflich geprägt
vom damaligen Trentiner Landeshauptmann Lorenzo Dellai während einer gemeinsamen Sitzung der
Landeshauptleute – an sich nicht neu
war, erfuhr es in Bozen eine besondere Ausformung. In Anbetracht des
Wählerzulaufs zum oppositionellen Lager der Selbstbestimmungsbefürworter,
welcher sich nicht allein in Wahlerfolgen von Süd-Tiroler Freiheit (STF) und
Freiheitlicher Partei Südtirols (FPS)
abzeichnete, wollte man mit dem
Ausbau der Euregio ein alternatives Modell schaffen und möglichst attraktiv
machen. So gaben insbesondere SVP und Nordtiroler ÖVP vor, mit
der Intensivierung der grenzüberschreitenden
Zusammenarbeit werde die
politische Unabhängigkeit der Landesteile gegenüber Rom, Wien und Brüssel
gestärkt, was dazu beitrage, dass die Teilung Tirols im „europäischen Geiste“
überwunden werde.
Außenminister Kurz:
„Ewiggestrige“
Das
Werben mit der politischen „Nord-Süd-Achse“ postulierten die
Regierungsparteien in Bozen (SVP),
Innsbruck (ÖVP) und Wien als „einzige realpolitische Alternative“ zur
Freistaatslösung, wie sie die oppositionelle FPS vertritt, und zur
Wiedervereinigung mit Tirol, mithin der Rückgliederung zu Österreich nach
erfolgreicher Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, wie sie die ebenfalls
oppositionelle STF auf ihre Fahnen geschrieben hat. Zugleich erhoben die
Regierungsvertreter gegenüber den Selbstbestimmungsparteien und -befürwortern
scharfe Kritik. Diese nannte der
damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) seinerzeit „Ewiggestrige“, die vom „Aufziehen neuer Grenzen“ träumten. Zugleich verstörten er und seine ÖVP mit der faktisch die Aufgabe des
Selbstbestimmungsverlangens markierenden
(und von der neuen SVP-Führung unter Philipp Achammer sowie
Landeshauptmann Arno Kompatscher stillschweigend-freudig gutgeheißenen) Position alle
patriotischen Kräfte, wonach mit der Südtirol-Autonomie „eine besondere Form der Selbstbestimmung verwirklicht“ sei.
Hinsichtlich
einer besseren funktionellen Zusammenarbeit in der „Euregio“ vereinbarten
nunmehr die drei Landesregierungen, die bis dato als „träge“ geltenden
Entscheidungsprozesse, wie sie etwa im Rahmen der Dreierlandtage gang und gäbe
waren, durch neue effektivere und
stärker institutionalisierte Mechanismen zu ersetzen. Wenngleich die Treffen
der Landtage – trotz ihres gemeinsamen Zusammentretens im Zwei-Jahres-Rhythmus
– durchaus einen politischen Fortschritt darstellten, war durch das dort
geltende Einstimmigkeitsprinzip die Entscheidungsfindung erschwert. Daher vermied man es, im Rahmen
dieses Gremiums strikt, politisch heikle
Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Dies wiederum führte dazu, dass die
realpolitische Bedeutung der gemeinsamen Landtagssitzungen als sehr gering
einzuschätzen war und lediglich einen symbolischen Zweck erfüllte. Daher
entschieden sich die Landesregierungen am 15. Oktober 2009 zur Einrichtung des sogenannten „Europäischen Verbunds
territorialer Zusammenarbeit“ (EVTZ), um die Europaregion mit eigener
Rechtspersönlichkeit und damit auch größerer politischer Selbständigkeit auszustatten.
Die „Euregio“ als
„EVTZ“
Das Konzept
fußt auf der Verordnung 1082/2006 des Europäischen Parlaments und
verfolgt dabei Ziel und Zweck, „[…] regionalen und kommunalen Behörden (und
auch nationalen Behörden in kleineren oder zentralisierten Ländern) sowie
öffentlichen Unternehmen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten die Einrichtung
von Verbünden mit eigener Rechtspersönlichkeit zur Lieferung gemeinsamer
Leistungen“ im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu ermöglichen. Die
Gründung der EVTZ rief zwar neuerlich
Einspruch seitens der italienischen Regierung hervor; der Protest fiel jedoch weitaus „gemäßigter“
aus als beim ersten Anlauf (s.o.). So trug Rom jetzt lediglich „formelle Bedenken“ vor und zeigte sich zudem bereit, über das
Projekt am Verhandlungstisch zu diskutieren. Bereits nach einigen Konsultationen zog sie ihre
anfänglichen Vorbehalte zurück und
stimmte schlußendlich zu, sodaß der
Eröffnung des EVTZ-Büros in Bozen nichts mehr im Wege stand.
Die
Aufgabenfelder der Europaregion à la EVTZ sollten nunmehr eine umfassende politische, wirtschaftliche
und soziale Bandbreite abdecken. Dies führte allerdings bereits nach kurzer
Zeit zu Bedenken. So befürchtete man
sogar in den jeweiligen Landesregierungen, man könne sich dabei, wie schon einmal, politisch übernehmen. Der Südtiroler
Landeshauptmann Arno Kompatscher, sonst eher ein glühender EVTZ-Akteur, befand sogar
zu Beginn seiner Amtszeit 2014 nüchtern, dass es der Europaregion – mit Ausnahme des im Bau befindlichen
Brenner-Basistunnels – an großen
„politischen Leuchtturmprojekten“ fehle und mahnte, die EVTZ dürfe „nicht wieder nur zu einem Schlagwortprojekt“ verkommen. Daher stufte die Südtiroler Landesregierung
die EVTZ als „Projekt herausgehobener
politischer Priorität” ein und stellte dafür zusätzliche Mittel bereit.
Nationalstaatliche
Interessen
Nichtsdestotrotz bleibt
abzuwarten, welche Entwicklung
die Euregio Tirol-Südtirol-Trentino in Zukunft tatsächlich nimmt, und es muß
sich auch erst noch herausstellen, ob damit tatsächlich das
Wiederzusammenwachsen der seit hundert Jahren getrennten Landesteile begünstigt
werden kann. Skepsis ist angesichts des
eingangs (mit Bezug auf das winterlich bedingte Verkehrschaos) geschilderten Zuständigkeitsproblems schon im Kleinen angebracht. Und wenn es um
größere Bedürfnisse geht, welche nationalstaatliche Interessen unmittelbar berühren,
bleibt von der hehren Euregio wenig mehr als ein matter Schein.
Das
zeigte sich 2016 in aller Deutlichkeit, als Österreich im Zuge der sogenannten
„Flüchtlingskrise”, die infolge
politischen Fehlverhaltens und selbstzerstörerischer
Willkommens-Signale in Wahrheit einer
Masseninvasion überwiegend junger Männer aus zuvorderst muslimisch geprägten
nah- und fernöstlichen sowie afrikanischen Ländern glich, ernstlich erwog, nach der vom damaligen Außenminister Kurz
maßgeblich zustande gebrachten Unterbindung des Zustroms über die
Balkan-Route auch jenen über die stark frequentierte Italien-Route durch Wiedereinführung von
(auch mit militärischen Mitteln unterstützten)
Brenner-Kontrollen zu stoppen.
Was jedoch unterbleiben konnte, da sich
Rom tatsächlich zur Abkehr von zuvor
eher laxem „Durchwinke”-Verhalten
bequemte. Und seit dem mit der
vorgezogenen Parlamentswahl 2018 vollzogenen
Machtwechsel hin zu der von der Fünf-Sterne-Bewegung und Lega Nord
gebildeten Regierung betreibt Rom – eben im nationalen Interesse des vom
einstigen königlichen Regierungschef Antonio Salandra 1915 beim
Kriegseintritt Italiens auf der Seite
der Entente-Mächte Frankreich und Großbritannien geprägten Prinzips des „Sacro egoismo” – neben den
Visegrad-Vier Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen die weitaus strengste Flüchtlings(abweisungs)politik im Rahmen der
EU.
Institutionell
funktionierende „Euregios”, jeweils ausgestattet mit politischer Selbstverwaltung,
Regionalparlament und -regierung, welche
tatsächlich die vielen ursächlich
von der ohne Beachtung der historisch-kulturellen Identität und
Volkszusammengehörigkeit sowie der Verweigerung des
Selbstbestimmungsrechts gezogenen)
Grenzen verschwinden ließen und damit
auch die dadurch erst entstandenen und
bis heute fortwirkenden Probleme nationaler Minderheiten auf einen Schlag
beseitigten, würden wohl nur durch Aufhebung des Nationalstaatsprinzips und
demzufolge mit der herbeizuführenden Metamorphose der Nationalstaaten zu
einer wirklich politischen EUnion möglich. Deren Parlament müsste sich
aus gewählten Abgeordneten aller Europaregionen
konstituieren und aus dessen Mitte die
EU-Regierung hervorgehen.
Derartigen Träumen, wie sie
vielleicht in den 1990er Jahren
von einigen in der Minderheiten-
und Volksgruppenpolitik Engagierten
geträumt worden sein mochten, stehen Entwicklung, Zustand und Lage, in
der/dem sich EUropa befindet, diametral entgegen. Es dominieren nationalstaatliche Interessen,
um nicht zu sagen Egoismen, und es gewinnen auf Loslösung und
Eigenstaatlichkeit bedachte Fliehkräfte – just auch innerhalb der Nationalstaaten (beispielsweise in Spanien,
Italien, Belgien, Großbritannien) – ebenso an Attraktivität wie politisches
Handeln in nationalstaatlicher Fasson.
Landeseinheit durch
Euregio – ein Wunschbild
Wider
den in der Europa-Frage gleichsam
missionarisch agierenden
österreichischen Schriftsteller Menasse ruft der türkisch-deutsche Literat Zafer Senocak
ernüchternd den „Abschied vom Fetisch eines politisch vereinten Europa” aus und
stellt fest, Europas Zukunft könne nur in der wertgebundenen Zusammenarbeit
souveräner Nationalstaaten liegen. Wie diese „wertgebundene Zusammenarbeit“ in
Bezug auf die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino funktioniert, geht aus dem
auf den einleitend erwähnten Meraner Andreas-Hofer-Feierlichkeiten
getroffenen Befund des Schützen-Kommandanten
Elmar Thaler hervor. Dem stellte der in
Mailand angesiedelte österreichische Generalkonsul Wolfgang
Spadinger im Beisein von Schützenformationen aus besagter Euregio auf
der Gedenkfeier in Mantua am Denkmal des dort vor 209 Jahren füsilierten Tiroler Volkshelden entgegen,
Andreas Hofer sei ein „früher Vertreter der Europaregion
Tirol-Südtirol-Trentino“ gewesen, die heute gut funktioniere. Wie dem auch sei
– unter dem Aspekt der Aufhebung der Teilung des Landes und des nach wie vor nicht aus den Augen zu
verlierenden Ziels des Wiedergewinnens seiner Einheit reicht sie kaum über die
Wunschbildkontur einer Schimäre hinaus.
Wer BAS-Aktivisten mit mordenden leninistischen Rotbrigadisten und anarcho-marxistischen Gesinnungsgenossen gleichsetzt, betreibt Geschichtsklitterung
Kurz vor Weihnachten 2018 richteten die Kinder Heinrich Oberleiters, eines
in Nordbayern lebenden Südtiroler Freiheitskämpfers der 1960 Jahre, über einen
Anwalt ein Gnadengesuch für ihren Vater an den italienischen Staatspräsidenten
Sergio Mattarella. Oberleiter ist 77
Jahre alt und einer der „Pusterer Buben“ (im Dialekt „Puschtra Buim“). Die
Selbstbezeichnung der Gruppe steht für vier legendäre Aktivisten des
Befreiungsausschusses Südtirol (BAS), der in Wort und Tat für die den
Landesbewohnern 1918/19 sowie 1945/46 verweigerte Selbstbestimmung eintrat.
Oberleiter gehört, wie Sepp Forer und Siegfried Steger, die, wie ihr bereits
verstorbener Kamerad Heinrich Oberlechner, nach der berühmten „Feuernacht“ 1961
nach Österreich
entkommen konnten, als der BAS, um die Weltöffentlichkeit auf das Südtirol-Problem
aufmerksam zu machen, rund um Bozen zahlreiche Strommasten gesprengt hatte. In
Italien wurden sie, wie die meisten ihrer mehr als 100 festgenommenen
BAS-Kameraden, in Abwesenheit zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und gelten
– nicht nur dort – nach wie vor als
Terroristen.
Dies zeigte sich jüngst daran, dass
nach Überstellung des einstigen Kopfes der linksextremistischen
Organisation „Bewaffnete Proletarier für den Kommunismus“ (Proletari Armati per
il Comunismo, PAC) Cesare Battisti von Bolivien
nach Italien der Abgeordnete Luca De Carlo an Mattarella appellierte, er möge
die Begnadigung verweigern und stattdessen „Druck auf die Regierung in Wien zur
Auslieferung all jener ehemaligen Südtiroler Terroristen ausüben, die sich für
Verbrechen verantwortlich gemacht und in Österreich Zuflucht gefunden“ hätten.
De Carlo gehört, wie 16 Kammerabgeordnete und 7 Senatoren, den „Brüdern
Italiens“ (Fratelli d’Italia; FdI) an, einer neo-faschistischen Partei, die sich in der Hervorkehrung ihrer an Mussolini
gemahnenden Propaganda von der „ewigen Italianità“ (Südtirols) vielleicht nur
noch von der im Bozner Kommunalparlament vertretenen „Casa Pound“-Partei
übertreffen lässt. In beide Parlamentskammern konnten FdI-Mandatsträger im März 2018 einziehen, da
ihre Partei Teil des Mitte-rechts-Wahlbündnisses um Silvio Berlusconis Forza
Italia (FI) und Matteo Salvinis Lega Nord (LN) war.
Salvinis Bozner Statthalter Massimo Bessone hat zwar sogleich klargelegt,
dass sich die LN – im Landtag ist sie seit Januar 2019 Koalitionspartner der
Südtiroler Volkspartei (SVP) – keinesfalls das Verlangen der FdI zueigen machen
werde. Dennoch muss man bis zum Beweis des Gegenteils festhalten, dass sich,
egal wer in Rom regiert(e), Italiens Betrachtungsweise um keinen Deut verändert(e),
wonach es sich bei BAS-Kämpfern wie bei den anarcho-marxistischen Gruppierungen
und linksextremistischen Organisationen
– PAC, Lotta Continua („Der Kampf geht weiter“), Potere Operaio
(„Arbeiter-Macht“), Nuclei Armati Proletari (NAP; „Bewaffnete Proletarische
Zellen“) sowie den streng marxistisch-leninistischen Brigate Rosse („Roten
Brigaden“, BR) und zahlreichen Splittergruppen ebenso um Terroristen handele
wie bei der rechtsextremistischen Ordine Nuovo (ON; „Neue Ordnung) und der
Avanguardia Nazionale („Nationalen Avantgarde) mitsamt Ablegern wie etwa den
Nuclei Armati Rivoluzionari („Bewaffneten Revolutionären Zellen“).
Gleichmacherische
Betrachtungsweise
Die gleichmacherische Betrachtungsweise beschränkt sich leider nicht auf
Italien. Doch wer sie betreibt oder ihr unhinterfragt folgt, übersieht oder
negiert die prinzipiellen Unterschiede nach Zielsetzung, Gewaltpotential und
-ausmaß. Während sich sowohl die genannten links-, als auch die
rechtsextremistischen Gruppen die Beseitigung der demokratischen Ordnung in
Italien mittels bewaffneten Kampfes bzw.
Putschens und deren Ersatz durch eine Diktatur des Proletariats bzw. ein
autoritäres (Militär-)Regime zum Ziel setzten, strebte der BAS nie den
gesellschaftlichen Umsturz oder anti-demokratische Verhältnisse an. Der BAS
verlangte vielmehr die zweimal verweigerte Selbstbestimmung der Südtiroler,
zumindest aber die Einlösung der von Italien 1946 vertraglich zugesicherten,
aber verwässerten Autonomie. Und kämpfte in Wort und Tat gegen Entrechtung und
Entnationalisierung, d.h. gegen die auch vom „demokratischen“ Italien
praktizierte Zurücksetzung ihrer Landsleute sowie die massive Ansiedlung von
Italienern zum Zwecke der Umstülpung der ethnisch-kulturellen Verhältnisse. Die
der existentiellen Notlage ihrer von Italien wie ein Kolonialvolk gehaltenen
Landsleute geschuldeten Gewalttaten, zunächst das Sprengen von Strommasten wie
in der legendären „Feuernacht“ 1961, richteten die BAS-Aktivisten
ausschließlich gegen Sachen, nicht gegen Menschen. Hingegen machten links- wie
rechtsextremistische Gruppen dabei keine Unterschiede. So gingen beispielsweise
allein auf das Konto der Rotbrigadisten 73 Mordanschläge und zahlreiche
Entführungen sowie Banküberfälle. Der Bombenanschlag von Rechtsextremisten auf
der Piazza Fontana in Mailand forderte 14 Todesopfer, und bei jenem auf den Hauptbahnhof von Bologna 1980 waren
85 Personen getötet und mehr als doppelt so viele verletzt worden.
„Inneritalienische
Manipulation“
Die meisten der nach der
„Feuernacht“ verhafteten BAS-Kämpfer
haben, sofern sie Folter und Haft überlebten, ihre Strafen verbüßt. Die
entkommenen, wie die „Pusterer Buben“, können
seit gut 50 Jahren wegen der (in Abwesenheit von italienischen
Gerichten) gegen sie ergangenen Urteile
nicht wieder in ihre Südtiroler Heimat zurück. Es ist menschlich allzu verständlich,
dass Oberleiters Kinder um Begnadigung für ihren Vater bitten, der 2016 indes
mit den Worten zitiert worden war, „ein
Gnadengesuch bei Italiens Staatspräsident kommt für mich nicht infrage, da ich
mich nicht im Unrecht sehe und der Meinung bin und schon immer war, dass man
mit Aufrechtgehen weiter kommt als mit Kriechen.“ Ebenso verständlich ist
aber auch, dass Sepp Forer und Siegfried Steger ein Gnadengesuch für sich mit der Begründung ausschließen, damit sei eine – von ihnen strikt abgelehnte –
Schuldanerkenntnis verbunden. Und absolut nachvollziehbar ist die vom Sprecher
der „Kameradschaft ehemaliger Südtiroler Freiheitskämpfer“ eingenommene
Position: Univ.-Prof. i.R. Dr. med.
Erhard Hartung lehnt für sich und seinen Fall einen derartigen Schritt mit der ebenso stichhaltigen Begründung ab, er
habe die ihm – er war damals junger Arzt – im Zusammenhang mit dem „Attentat auf der Porzescharte“ (1967) zur
Last gelegte Tat ebensowenig begangen wie
seine Mitstreiter Egon Kufner – damals Unteroffizier des österreichischen
Bundesheeres – und (der 2015 verstorbene, damalige Elektriker) Peter
Kienesberger.
Der (Militär-)Historiker Oberst Dr. Hubert
Speckner hat in seiner auf gründlichster Auswertung bisher verschlossener oder
unbeachtet gebliebener Akten fußenden voluminösen Publikation „Zwischen Porze und Roßkarspitz… Der ,Vorfall‘
vom 25. Juni 1967 in
den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten. Mit einem Beitrag von
Reinhard Olt und einem Vorwort von Michael Gehler“, Wien (Verlag Gra&Wis) 2013, schlüssig nachgewiesen, dass sich der Vorfall in
der Nacht vom 24. / 25. Juni 1967 an besagtem (Grenz-)Übergang von Osttirol zur
italienischen Provinz Belluno keinesfalls so ereignete wie ihn Italien
darstellte (und Österreich politisch – nicht juristisch – schluckte). Vielmehr
konnte sich dort nur abgespielt haben, was
der damalige österreichische Justizminister Hans Richard Klecatsky seinerzeit
schon eine „rein inneritalienische
Manipulation“ genannt hatte. Was aber Bundeskanzler Josef Klaus (ÖVP) weder
in der Substanz noch in der Konsequenz aufgriff, sondern wider besseres Wissen ignorierte
und aus (mutmaßlich vorgeblichem) „Staats-Interesse“ negierte.
So ist erwiesen, dass unmittelbar nach den von italienischen Stellen
verbreiteten „Attentats“-Meldungen der Osttiroler Bezirkshauptmann Dr. Othmar Doblander
sowie der ihn begleitende Bezirksgendarmeriekommandant Josef Scherer am Ort des
angeblichen Geschehens waren. Doblander hielt in seinem Bericht an Hofrat Dr. Max
Stocker, den Tiroler Sicherheitsdirektor, fest, dass er „mit Sicherheit auf der
Porzescharte keine Minenfallen vorgefunden“ habe, die
italienische Soldaten getötet haben sollten. Dies teilte Stocker am 28.
Juni auch dem Ministerialrat Dr. Franz Häusler vom staatspolizeilichen Dienst
im Wiener Innenministerium mit. Die erst neun Tage nach dem Geschehen
auf der Porzescharte zur Inspizierung eingesetzte gemischte italienisch-österreichische
Untersuchungskommission fand indes den somit mehr als eine Woche ungesicherten
„Tatort“ gänzlich anders vor als
von Doblander beschrieben, woraus kein anderer Schluss zulässig sein kann, als
dass er in der Zwischenzeit manipulativ verändert worden sein musste.
Spreng(stoff)technische
Expertisen
untermauern historische
Forschungsergebnisse
Hartung ist es verständlicherweise um seine völlige Rehabilitation zu tun. Nach Jahrzehnten des gegen ihn ergangenen (Fehl-)Urteils
und demzufolge auch der Fernhaltung von Wurzeln und Wirkungsstätte medizinisch-homöopathisch
bedeutender familiärer Vorfahren – diese betrieben in Riva am (vor dem Ersten
Weltkrieg österreichischen) Gardasee ein von der Crème der Gesellschaft sowie den Größen der europäischen
Literatur gerühmtes Sanatorium ( http://www.tirolerland.tv/das-sanatorium-dr-von-hartungen-in-riva-am-gardasee/
) – wollte er Speckners grundstürzenden (militär)historische
Forschungserträge zusätzlich von Spreng(stoff)experten
abgesichert wissen. Die drei der von Hartungs eingeschalteter Wiener Kanzlei Grama Schwaighofer Vondrak
Rechtsanwälte GmbH unabhängig
voneinander beauftragten Sachverständigen untermauern denn auch in ihren Privatgutachten
mittels naturwissenschaftlich-technischer Expertisen Speckners Untersuchungsergebnisse:
So kam der international
anerkannte deutsche Gutachter Dr.-Ing. Rainer Melzer (öffentlich bestellter und
vereidigter Sachverständiger für Einsturzverhalten, Erschütterungen und Schäden
beim Abbruch von Bauwerken; Dresden) 2015 zu dem unumstößlichen Befund, dass an dem
in der Causa infrage stehende Strom-Mast Nr. 119 auf der Porzescharte am 25.06.1967
zwei Sprengungen vorgenommen worden seien. Bei Betrachtung aller vorliegenden
Daten und Sachverhalte sei eine Täterschaft Hartungs, Kienesbergers und Kufners
infolgedessen auszuschließen.
Der gerichtlich zertifizierte
österreichische Sprengstoff-Fachmann Mag. Maximilian Ruspeckhofer, der den
angeblichen Tatort mehrmals untersuchte, hielt in seiner sprengtechnischen
Analyse zweifelsfrei fest, dass die
Genannten unmöglich die Täter gewesen sein konnten. So heißt es in seinem umfangreichen
Gutachten abschließend: „Es
besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Mast in zwei Etappen gesprengt
wurde. Und das schließt die Täterschaft der damals beschuldigten Personen aus.
Es besteht darüber hinaus der dringende Verdacht, dass eineursprünglich nicht detonierte Ladung erst am nächsten Tag bzw. in
dennächsten Tagen entfernt oder
gezündet wurde. (Das Wesentliche ist auf Ruspeckhofers WebSite https://www.ruspeckhofer.at/fachwissen/cold_case_porzescharte-8
enthalten.)
Und die Kernaussage in dem vom
dritten hinzugezogenen Experten 2018 erstellten (mit 120 Seiten umfangreichsten)
Gutachten lautet: „Im Rahmen der
Gutachtenerstellung und aufgrund der sehr umfangreichen Befundaufnahme, der
Rekonstruktion sowie Detailanalysen der einzelnen Sachverhalte zu den aktenkundigen
Angaben der Ereignisse vom 25. Juni 1967 auf der Porzescharte, kann durch den
gerichtlich beeideten und zertifizierten Sachverständigen Ing. Harald Hasler
BSc MSc mit an SICHERHEIT GRENZENDER WAHRSCHEINLICHKEIT gesagt werden, dass sich
die Ereignisse so NICHT ereignet haben können.“
Welche Schlüsse sind aus alldem zu ziehen? Das Unrechtsurteil von Florenz
(1971) ist zu annullieren. Mit den Untersuchungsergebnissen Speckners sowie den
vorliegenden Gutachten dürften genügend neue Beweismittel vorliegen, um
gegebenenfalls sogar eine dazu erforderliche Verfahrenswiederaufnahme zu
begründen. Und nicht zuletzt sind die trotz
Freispruchs in Österreich bis zur Stunde mit dem Makel der Porze-Täterschaft behafteten Personen höchstamtlich
und überdies öffentlichkeitsvernehmlich zu rehabilitieren.
Schluss mit der Diskreditierung
des Freiheitskampfs
Speckner hatte in einer weiteren opulenten Publikation „Von der ,Feuernacht‘
zur ,Porzescharte‘. Das ,Südtirolproblem‘ der 1960er Jahre in den
österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten, Wien (Verlag Gra&Wis) 2016 insgesamt
48andere „Attentate“ bzw. „Anschläge“ einer gründlichen Analyse unterzogen. Dabei
erwies sich, dass die meisten entweder überhaupt nicht (so) stattfanden (wie
von Italien dargestellt) oder unter „falscher Flagge“ verübt wurden, um den
BAS dafür verantwortlich zu machen, seine Aktivisten als Terroristen zu
verunglimpfen und damit den Südtiroler Freiheitskampf insgesamt zu
diskreditieren. Andere Vorfälle dieser Art erwiesen sich schlicht als Unfälle.
Es ist daher dringend und zwingend geboten, die zentralen amtlichen italienischen
Darstellungen zum damaligen Geschehen als das zu begreifen, was sie sind,
nämlich Manipulationen und als solche Geschichtsfälschung. Italien, das dafür
die Hauptverantwortung trägt, hat in den letzten Jahren unzählige
Schwerverbrecher und linke wie rechte ideologisch-terroristische Gesinnungstäter
begnadigt. Seinem jetzigen Staatsoberhaupt Sergio Mattarella stünde es daher
gut an, nicht allein die Begnadigung Heinrich Oberleiters als Akt der
Menschlichkeit zu verfügen. Sondern es wäre längst an der Zeit, dass der 12.
Präsident der Republik Italien hinsichtlich all jener verbliebenen BAS-Leute,
die schon seit mehr als 50 Jahren außerhalb ihrer Heimat zubringen müssen, fortgeschrittenen Alters sind und für niemanden
eine Gefahr darstellen, einen sauberen
Schlussstrich zieht.
Nicht alles Übel kommt aus den USA, aber viele gesellschaftliche Erscheinungen
schwapp(t)en von dort zu uns West- und Mitteleuropäern herüber. „Political
Correctness“ („politische Korrektheit“; des Weiteren abgekürzt „PC“) bestimmt
seit geraumer Zeit Politik sowie Medien und schränkt – von der Bevölkerung
kaum wahrgenommen oder
bequemlichkeitshalber ausgeblendet respektive
ignoriert – unser Dasein, vor allem unser Denken und Fühlen ein. PC formt mehr und mehr den öffentlichen Diskurs, bemächtigt sich
Forschung und Lehre an Hochschulen sowie des Unterrichts in pädagogischen Einrichtungen und wirkt sich
selbst auf privates Verhalten aus.
Unsere Wahrnehmung wird zusehends bestimmt von stromlinienförmig
ausgerichteten Hauptstrom-Medien, deren Wirkmacht umso größer ist, je besser es
ihnen gelingt, Rezipienten (Zuschauer, Zuhörer, Leser) nicht nur Information zu
übermittelt, sondern ihnen auch sofort zu zeigen, was/wie diese darüber zu denken
haben. Damit ist jedweder Meinungspluralismus ad absurdum geführt, und die
systemimmanente Gleichförmigkeit trägt à la longue Züge des Totalitären. Vertreter unerwünschter Meinungen mundtot zu machen,
ist mit das Schlimmste, was in einem demokratischen Gemeinwesen geschehen kann,
zu dem Meinungs- und Pressefreiheit de
jure gehören, de facto indes durch PC wenn nicht bereits ausgehebelt, so doch
zumindest eingeschränkt sind.
Ignoranz
und/oder Verschweigen
Zu den zerstörerischen Wirkungen politischer Korrektheit zählt das
Ignorieren respektive gänzliche Verschweigen von Sachverhalten, Ereignissen und
(nicht nur neuen) Forschungsergebnissen. Dies insbesondere dann, wenn die
akribische Auswertung und sorgfältige Analyse von ans Licht geholten Fakten, die
bisher im Dunkel verblieben waren, oder die Neubeleuchtung von Fakten „Erkenntnisse“ grundlegend zu erschüttern
vermögen, auf denen bis dato für sakrosankt erachtete, historiographisch und/oder
politisch festgeschriebene sowie massenmedial verbreitete „Wahrheiten“ und/oder
Meinungen respektive „Überzeugungen“ beruh(t)en. Dies lässt sich bei der
Betrachtung jüngerer Vorgänge, in deren Mittelpunkt Geschichte, Politik,
Wissenschaft und Publizistik stehen, an einem besonderen Beispiel auf geradezu
bedrückende Weise aufzeigen.
Alljährlich gedenkt man am 8. Dezember im südlichen Landesteil Tirols,
nämlich in St. Pauls (Gemeinde Eppan), der Freiheitskämpfer der 1950er und
1960er Jahre. Eigentlicher Anlass ist der Tod des an den Folgen von
italienischer Folter und Haft am 7. Dezember 1964 verstorbenen Gründers des
Befreiungsauschusses Südtirol (BAS), Sepp Kerschbaumer. Gedacht wird zudem
seiner Mitstreiter Kurt Welser, Jörg Klotz, Toni Gostner, Franz Höfler und Luis
Amplatz, die wie er für die Freiheit ihrer Heimat ihr Leben ließen.
Die Genannten konnten sich seinerzeit guten Gewissens auf eine fundamentale
Sentenz berufen und davon leiten lassen,
welche konditioniert die strikte Aufforderung zur Tat verlangt: „Wenn Unrecht
Recht wird, wird Widerstand Pflicht!“
Dieser wuchtige Satz entstammt der Enzyklika „Sapientiae Christianae“
(„Christliche Weisheiten“) von Leo XIII. und ist die Kurzform der darin
enthaltenen längeren päpstlichen Aussage vom 10. Januar 1890 darüber, dass
Gesetze eines Staates im Widerspruch zum
(göttlichen und weltlichen) Recht stehen
können. In derselben Tradition – und vor dem Hintergrund der deutschen, der
österreichischen und damit auch der Tiroler Geschichte – wird just auch der
1946 formulierte Lehrsatz des Gustav Radbruch schlagend: „Wo das gesatzte Recht dazu benutzt wird,
menschenverachtendes Unrecht auszuüben, wird der Widerstand für Jedermann zur
Pflicht!“ Und Franz Klüber, einst Professor
für katholische Soziallehre in Regensburg, hatte in seiner aufschlussreichen, nach wie vor
empfehlenswerten, 1963 erschienenen Schrift „Moraltheologische und rechtliche
Beurteilung aktiven Widerstandes im Kampf um Südtirol“ ausdrücklich
festgehalten, dass gegen eine als Unrechtssystem empfundene Ordnung oder
Herrschaft Widerstand zu leisten nicht nur theologisch, sondern just auch
juristisch begründet sei.
Wer wollte bestreiten, dass Italien gegenüber Südtirol(ern) nicht nur
während der Herrschaft von Mussolinis
Schwarzhemden Unrecht für Recht setzte, sondern auch nach Ende des Zweiten
Weltkriegs faschistisches (Un-)Recht im „demokratischen Gewande“ des nunmehr
republikanischen Staates beibehielt, nämlich den bis in unsere Tage partiell
als Teil seines Strafrechts geltenden Codice Rocco? Damals wurde die darin
enthaltene Bestimmung „Verbrechen gegen die Einheit des Staates“ gegenüber den Südtiroler Freiheitskämpfern angewendet, heute
bietet ihn die Staatsanwaltschaft bisweilen auf, wenn Austro-Patrioten an
Eisack und Etsch Plakate mit der Aufschrift „Südtirol ist nicht Italien“ mit
sich führen oder Angehörige der Łiga Vèneta zwischen Gardasee und dem Golf von
Venedig für die Eigenständigkeit Venetiens respektive dessen Loslösung von
Italien demonstrieren. Allenfalls wenn die römische Staatsmacht eingreift sowie
„Rädelsführer“ festsetzt und ihnen den Prozess macht, wird in den herkömmlichen
Medien darüber berichtet und – wenn überhaupt dann politisch korrekt – wider
„den Ungeist des Separatismus“ kommentiert. Ansonsten herrscht Schweigen.
Stereotypie und
sakrosankte Zuschreibung
In Anbetracht der römischen Politik gegenüber den Tirolern deutscher und
ladinischer Zunge zwischen Brenner und Salurner Klause sowohl in der
Zwischenkriegszeit, als auch insbesondere zwischen 1945 und dem leidvoll
erkämpften und verhandelten Autonomie(paket) 1969/1972 müssen die Aktionen der Südtiroler
Freiheitskämpfer als sittlich, moralisch und juristisch gerechtfertigte
Widerstandshandlungen gewertet werden. Hierbei ist Wert zu legen auf die
Feststellung „aller Freiheitskämpfer“. Politisch,
publizistisch und historiographisch wurden und werden nämlich Anlage und
Wirkung ihrer Handlungen und Taten in Zweifel gezogen. Bis heute gilt in
Politik wie Publizistik und nicht zuletzt in den Wissenschaftsdisziplinen
Zeitgeschichte und Politologie die/das von Italien propagandistisch wider die
BAS-Kämpfer gerichtete und verbreitete Stigmatisierung/Urteil als „Attentäter“
und „Terroristen“; und nicht nur die österreichische, sondern weithin auch die
deutsche und europäische veröffentlichte Meinung folgt(e), von
Hauptstrom-Politik, Hauptstrom-Medien sowie Hauptstrom-Wissenschaft und
Hauptstrom-Lehre politisch korrekt instruiert, dieser stereotypen, ja
sakrosankten Zuschreibung.
Zudem haben Wissenschaft, Politik und Medien den Südtiroler Freiheitskampf einer nützlichen Segregation
unterzogen, haben Akteure und
Aktivitäten säuberlich nach Zweckdienlichkeit für die politische,
wissenschaftliche und publizistische Betrachtung unterteilt:
In eine erste Phase, die man zunächst aus der Sicht absoluter
Gewaltlosigkeit zwar als moralisch verwerflich deklarierte, später aber nolens
volens als politisch hilfreich ansah, da sie ja doch anerkanntermaßen den Weg
zum Autonomiepaket mitbereitet habe. (Dennoch erklärte einer der maßgeblichen
mit der Südtirol-Frage befassten Zeithistoriker, der ob seiner Akten-Editionen
und Monographien für ein großes Bozner Verlagshaus ebenso wie für die
maßgeblich von der SVP seit 1948 gestellte Landesregierung quasi wie die
alleinige Autorität der Geschichtsschreibung und -deutung gilt, auch diese
Phase für kontraproduktiv. )
Und in eine zweite Phase, in der die Aktivisten angeblich ohne Rücksicht auf
Verluste gehandelt und demzufolge nicht mehr, wie in Phase eins, Gewalt nur
gegen Sachen, sondern auch gegen Menschen verübt hätten. Und dass
dabei ideologisch bornierte
Rechtsextremisten, ja Nazi-Adepten für die Gewalttaten Verantwortung trügen.
Diese Phase wird – entgegen den Aussagen aus der Erlebnisgeneration und wider
neuere Erkenntnisse/Forschungsergebnisse von Wissenschaft, Publizistik und
Politik für gänzlich verwerflich und unentschuldbar erklärt, und Beteiligte
werden als niederträchtige Parias stigmatisiert.
Dem steht entgegen, was der (Militär-)Historiker Hubert Speckner mittels
Auswertung bisher von niemandem eingesehener Akten des Österreichischen
Staatsarchivs in jahrelanger Forschung nachgewiesen hat, nämlich:
Dass das angebliche Attentat auf der Porzescharte am 25. Juni 1967 nicht
stattfand.
Dass es zumindest nicht so stattfand,
wie es italienischerseits dargestellt, von der österreichischen Politik leisetreterisch
übernommen und bis zur Stunde von
wissenschaftlicher und publizistischer Seite – nicht zuletzt auch in Südtirol –
als Faktum angesehen wurde und, als gäbe
es Speckners Publikation „Zwischen Porze
und Roßkarspitz…“, Wien (Verlag Gra&Wis) 2013, überhaupt nicht, in
allen weiteren Verwendungszusammenhängen unhinterfragt prolongiert wird.
Niemand in Bozen, Innsbruck und Wien rührte bisher einen Finger zur
Rehabilitierung der zu Unrecht der Tat bezichtigten und in Italien unter
widrigsten, von deutschen und österreichischen Höchstgerichten für menschen-
und verfahrensrechtswidrig erklärten Umständen zu hohen Haftstrafen
verurteilten Freiheitskämpfer Univ.-Prof. Dr. med. Erhard Hartung und Egon
Kufner (sowie den 2015 verstorbenen Peter Kienesberger). Diese Urteile, die man
aufgrund der Erkenntnisse Speckners
Schandurteile nennen muss, gehörten zwingend aufgehoben. Und es wäre
Pflicht Österreichs, gegenüber Italien auf juristischem wie
politisch-diplomatischem Wege just dafür zu sorgen. Die Republik Österreich und
die Medien, zumindest die öffentlich-rechtlichen sowie alle gedruckten Organe,
die für sich den Anspruch der Seriosität erheben, ihn diesbezüglich aber nicht
einlösen, hätten zudem darauf hinzuwirken, dass die Genannten fortan nicht
länger „Attentäter“,
„Terroristen“ und „Mörder“ genannt werden dürften.
In einer weiteren umfänglichen Studie
„Von der ,Feuernacht‘ zur
,Porzescharte‘. Das ,Südtirolproblem‘ der 1960er Jahre in den österreichischen
sicherheitsdienstlichen Akten, Wien (Verlag Gra&Wis) 2016 hat Speckner anhand von aufbereiteten 48
„aktenkundig gewordenen Vorfällen“ aus der Zeit, in denen Südtiroler
Freiheitskämpfer in Wort und Tat aktiv gewesen sind, akribisch nachgewiesen,
dass seine aus den Inhalten der
jeweiligen österreichischen Dokumente gewonnenen Erkenntnisse essentiell von
den offiziellen italienischen Darstellungen abweichen. Auch hier gilt als
Befund: Ignoranz und politische Korrektheit verhindern, dass „der Wahrheit eine
Gasse“ geschlagen, dass ihr ans Licht der breiten Öffentlichkeit verholfen
wird.
Geschichtsrevisionistische
Schlüsse
Über die luziden Befunde und schieren Erkenntnisse im Einzelnen hinaus lassen
sich aus alldem einige geschichtsrevisionistische Schlüsse ziehen. So fanden
Aktionen des BAS ungefähr zeitgleich eine gewisse Parallelität durch Anschläge italienische
Neofaschisten. Umgehend instrumentalisierte Italien vor allem die von Speckner
analysierten Vorfälle, insbesondere jene mit bis heute nicht einwandfrei geklärten
Hintergründen, und nutzte sie politisch,
medial und propagandistisch gegen Österreich.
Italien hatte nach dem Zweiten Weltkrieg alles versucht, um alle Südtiroler
– wegen der zwischen Hitler und Mussolini 1939 vereinbarten „Option“, woraufhin
bis 1941 ungefähr 90.000 Südtiroler „ins Reich“ umgesiedelt wurden – als Nazis zu stempeln. Und seit Ende der 1950er-Jahre stellte
Italien alle BAS-Aktivisten in die recht(sextrem)e Ecke sowie politisch wie
publizistisch unter Generalverdacht des Neonazismus. Was in politischen Milieus
Österreichs und Deutschlands von ganz links bis zur Mitte verfing und bis heute
anhält, und womit den Aktivisten bis zur Stunde Unrecht geschieht.
Die Südtiroler Freiheitskämpfer hatten aus schierer Verzweiflung ob der
kolonialistischen Unterwerfungsgeste des „demokratischen“ Nachkriegsitaliens gehandelt.
Und, besonders wichtig, weil es den gewohnt politisch-zweckmäßigen wie
publizistischen „Fakten“ entgegensteht: Der BAS-Grundsatz, wonach „bei
Anschlägen keine Menschen zu Schaden kommen dürfen“, wurde trotz Eskalation der
Gewalt zwischen 1961 („Feuernacht“) und 1969 (mehrheitliche Annahme des
Südtirol-„Pakets“ durch die Südtiroler Volkspartei) respektive 1972 (Zweites
Autonomie-Statut) weitestgehend eingehalten.
Der Tod nahezu aller während dieser Jahre gewaltsam ums Leben gekommenen
Personen ist nicht dem BAS als solchem anzulasten, wie dies fälschlicherweise
von der italienischen Justiz und den Mainstream-Medien Italiens, Österreichs
und Deutschlands wahrheitswidrig festgestellt sowie verbreitet wurde und auch
heute noch behauptet wird. Stattdessen handelt es sich mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit um Unfälle – so im Falle des Todes von Bruno Bolognesi
in der Pfitscher-Joch-Hütte am 23. Juni 1966 sowie von Herbert Volgger, Martino
Cossu und Franco Petrucci am 9. September 1966 auf der Steinalm-Hütte –, bzw.
um eine fixe Geheimdienstaktion – so im Falle des Todes von Olivo Dordi,
Francesco Gentile, Mario Di Lecce und Armando Piva auf der Porzescharte am
25./26. Juni 1967 sowie zudem im Falle des Todes von Filippo Foti und Edoardo
Martini im „Alpenexpress“ zu Trient am 30. September 1967. Bezüglich der Todesfälle Vittorio Tiralongo
(3. September 1964), Palmero Ariu und Luigi
De Gennaro (26. August 1965) und schließlich
auch des Salvatore Gabitta und des Guiseppe D’Ignoti (24. August 1966) waren
die allfälligen Strafverfahren ohne Anklageerhebung zufolge nicht ausreichender
Erkenntnisse ohnedies eingestellt worden.
Für einige im Zusammenhang mit der Südtirol-Frage zwischen 1961 und 1963 in
Österreich geplante und/oder ausgeführte Anschläge ist dem BAS ursprünglich
fälschlicherweise die Täterschaft zugeschrieben worden. Es waren dies die
Detonation einer am Denkmal der Republik in Wien angebrachten Sprengladung (30.
April 1961), die Sprengung des Andreas-Hofer- Denkmals in Innsbruck (1. Oktober
1961), Schüsse auf die italienische Botschaft in Wien (8. Oktober 1961),
Anschlagsversuche am Wiener Heldenplatz (27. Dezember 1961) und auf das
sowjetische Ehrenmal („Russendenkmal“; 18. August 1962) sowie der für den
Gendarmen Kurt Gruber todbringende Sprengstoffanschlag in Ebensee (23.
September 1963), bei dem es zudem zwei Schwer- und neun Leichtverletzte gab.
Diese Taten waren von italienischen Neofaschisten bzw. von österreichischen
Rechtsextremisten, die nicht dem BAS angehörten oder mit ihm in Verbindung
standen, begangen worden. Ein Zusammenhang zwischen den Anschlägen und dem BAS
wurde und wird bis zur Stunde wahrheitswidrig von ideologisierten Personen
sowie von (nicht selten bewusst) falsch informierten/informierenden Medien in
Österreich, Italien und Deutschland sowie nicht zuletzt von staatlichen italienischen
Stellen zur Gänze behauptet, um den BAS zu diskreditieren.
Rechtsbeugung
und Opportunismus
Auf italienischen Druck hin und aus vorgeblicher Staatsräson hatte Wien
damals wider besseres Wissen in vielen die Südtirol-Frage bestimmenden
Angelegenheiten den römischen Forderungen nachgegeben. Und zum Nachteil von
Südtirol-Aktivisten war seinerzeit, als Rom die EWG-Assoziierungsbemühungen
Wiens wegen des Südtirol-Konflikts torpedierte, von beteiligten
österreichischen Stellen sozusagen aus vorauseilenden Gehorsam gegenüber
Italien, mitunter aber auch aus bestimmten Interessenlagen, Recht gebeugt
worden. Es muss angesichts dieser instrumentalisierten Causen zutiefst
bedrücken, dass Heerscharen von Betrachtern aus Politik, Kultur,
Publizistik und leider auch aus der
Wissenschaft – nicht zuletzt auch in Südtirol – der geschichtspolitisch von Italien vorgegebenen
und von Österreich sanktionierten
Betrachtungsweise folg(t)en: Wider besseres Wissen, dafür aber politisch
korrekt und grenzüberschreitend opportunistisch.